Sehr geehrte Frau Bossog,

am 23. Mai findet in Berlin im Reichstag die Wahl des neuen Bundespräsidenten statt. Dies wird eine besondere Veranstaltung sein. Gemäß Grundgesetz tritt dafür die Bundesversammlung zusammen, die von den Abgeordneten des Bundestages und einer gleichen Anzahl Bürger besteht, die von den Landtagen bestimmt wird. Nach einer möglichen Verfassungsänderung wäre auch eine Direktwahl denkbar. Die Direktwahl durch das Volk ist die höchste Form der Legitimation – ein direkt gewählter Präsident wäre ein starker Präsident. Ein direkt gewählter Präsident würde mehr Rechte und Befugnisse zu Lasten der anderen Verfassungsorgane erhalten (müssen), z. B. ein Vorschlagsrecht für den Bundeskanzler, die Auflösung des Parlamentes oder die Festlegung von Wahlterminen. Ein direkt gewählter Präsident würde und müsste Richtlinienkompetenz in der Außen- und Sicherheitspolitik haben. Er würde das Macht- und Verantwortungsgefüge in der Bundesrepublik Deutschland verändern. Die Bundesrepublik würde zentralistischer, dirigistischer und weniger föderal. Unser bewährtes System von „checks and balances“ würde zerstört. Wollen wir das wirklich? Wollen wir eine Machtposition schaffen wie den Reichspräsidenten, dessen Ermächtigungsgesetze zum Untergang der Weimarer Republik geführt haben? Sind die politischen Systeme der USA oder Russlands unseren überlegen? Wenn der amerikanische oder russische Präsident Krieg führen wollte, dann machte er es. Niemand könnte ihn aufhalten. Unsere Form parlamentarischer Demokratie hat sich seit 60 Jahren bewährt. Mit unseren bisherigen Präsidenten hatten wir Glück. Und kann man sich einen ausgedehnten Wahlkampf vorstellen, der einer Direktwahl vorausgehen müsste? Mit öffentlichen Schlagabtausch, Massenplakatierungen und möglicherweise mit Schlammschlachten? Ich vermag keine Vorteile in einer Direktwahl erkennen. Vielen Dank gleichwohl für die Anfrage. Ich grüße Sie und wünsche persönlich alles Gute.

Manfred Grund