Frage an Martin Gerster bezüglich Finanzen

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Martin Gerster
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Frage von Heinrich W. •

Frage an Martin Gerster von Heinrich W. bezüglich Finanzen

Sehr geehrter Herr Gerster!

Es liegt mir der Entwurf vor über einen "Vertrag zur Einrichtung des europäischen Stabilitäts-mechanismus" (Herunterzuladen: freiewelt.net ). Ihnen wird dieses Papier bekannt sein, da der Bundestag im Herbst darüber abstimmen soll.
1. Nach diesem Entwurf würden wir uns "bedingungslos" und "unwiderruflich" verpflichten, Geld in den ESM zu geben (Art.8/4). Nach Art. 9/3 kann der geschäftsführende Direktor neuen Kapital-bedarf reklamieren ohne dass der Bundestag ein Recht hat zur Debatte darüber und zur Zah-lungsverweigerung, denn die BRD muss dann ebenso "unwiderruflich" und "bedingungslos" Geld zuschießen. Sehen Sie diese Vertragstexte auch als eine Entmündigung des Bundestages an?
2. Neben anderen Bestimmungen gibt es auch eine solche, die den Verantwortlichen des ESM keine Rechenschaft abfordern, sie genießen sogar "umfassende gerichtliche Immunität" nach Art. 27. Die Archive des ESM "sind unverletztlich". Können die "Beauftragten" für den ESM machen was sie wollen und unterliegen keiner Kontrolle, keiner Gerichtsbarkeit? Können Sie als Abgeord-neter, der Schaden von der Bundesrepublik Deutschland abwenden soll, für solch einen Vertrag stimmen?
3. Das BVG bemerkte im Urteil über die Ratifizierung der "Europäischen Verträge" ein ordentli-ches Defizit an legitimierter Demokratie. Die Geldbeträge, die im Rahmen des ESM fließen müssen auf Kosten der Steuerzahler, erreichen zunächst fast 2/3tel des Bundesetats. Sind Sie dafür, dass die Aushöhlung der Rechte des Bundestages weiter fortschreiten soll insbes. seine Haushaltshoheit?
4. Erkennen Sie in dieser Entwicklung auch einen Bruch von Abmachungen (vorallem der Stabi-litätskriterien, illegale Durchsetzung einer Transferunion) wie Herr Erwin Teufel in
www.faz.net/-02203m feststellt?

Mit freundlichen Grüssen
Heinrich Westner

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SPD

Sehr geehrter Herr Westner,

vielen Dank für die Anfrage, die Sie via Abgeordnetenwatch an mich und weitere Kollegen im Bundestag gestellt haben. Ich habe Sie bei den Gesprächen in meiner Bürgersprechstunde als interessierten und angenehm kritischen Diskussionspartner erlebt. Deshalb ist es mir besonders wichtig, die Diskussion über die von Ihnen angesprochenen Sachverhalte auf angemessenem Niveau und ohne Rückgriffe auf allzu tendenziöse Quellen zu führen.

Bevor ich auf die eigentliche Frage eingehe, erlauben Sie mir deshalb ein paar persönliche Anmerkungen. Der ESM-Vertragsentwurf geistert gegenwärtig als Projektionsfläche für euroskeptische Angstszenarien aller Art durch das Internet (siehe aktuell http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,784869,00.html . Schaut man sich die Kreise an, die hinter den entsprechenden Kommentierungen stehen, offenbart sich oft Interessantes.

So verweisen Sie in Ihrer - ansonsten analog formulierten - Abgeordnetenwatch-Frage an Herrn Gauweiler auf die Seite zeit-fragen.ch. Hinter dieser Plattform steht Erika Vögeli, die als Funktionärin des 2002 aufgelösten und politisch weit rechtsaußen anzusiedelnden „Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis“ (VPM) bekannt ist.

Auch die Seite freie-welt.net, auf die Sie in Ihrer Frage Bezug nehmen, weist enge personelle Überschneidungen mit der Online-Kampagnenplattform abgeordnetencheck.de auf, die unter dem Titel „Stoppt EU-Schuldenunion (ESM-Vertrag)“ zu Massenmailings an Abgeordnete aufruft. Wirft man einen genauen Blick auf die politischen Hintergründe der „Zivilen Koalition e.V.“, die ebenfalls eng mit der Seite abgeordnetencheck.de verbunden ist, so wird schnell offensichtlich, dass es hier um euroskeptische Meinungsmache und nicht wirklich um die auf der abgeordnetencheck-Homepage versprochene dialogorientierte Initiative „aus der Mitte der Zivilgesellschaft“ geht. Mit Karl Feldmeyer und Klaus Peter Krause finden sich beispielsweise prominente Vertreter der ausgesprochen rechtslastigen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ im engsten Umfeld der Initiative. Feldmeyer und Krause sind ebenso Teil der freie-welt.net-Redaktion wie Sven bzw. Beatrix von Storch, die der Zivilen Koalition e.V. vorstehen bzw. das Portal „Abgeordnetencheck“ betreiben. Diese Hintergründe sind zu beachten, wenn entsprechende Quellen in ihrer Objektivität bzw. politischen Neutralität zu Bewertung anstehen.

Auch inhaltlich habe ich mit der Kampagne große Schwierigkeiten. Das beginnt (neben dem reißerischen Titel und diversen - inhaltlich hoch problematischen - Vereinfachungen) bei dem Verweis auf eine angeblich drohende „Transferunion“, die reichlich unbestimmt bleibt. Ich meine, dass es eine solche Transferunion bereits seit Jahrzehnten gibt, wenn wir es um den Ausgleich wirtschaftlicher, sozialer und regionaler Unterschiede innerhalb der EU geht. Dabei denke ich an den 1958 errichteten Europäischen Sozialfonds (ESF), den 1975 gegründeten Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) oder den Kohäsionsfonds von 1994, der sich den Bereichen Umwelt und Verkehr widmet. Insbesondere beim Aufbau der neuen Bundesländer hat Deutschland von diesen Maßnahmen massiv profitiert.

Insofern erscheint mir die Warnung vor einer „Transferunion“, die es im Rahmen einer simplifizierenden „Ja/Nein“-Entscheidung abzulehnen gelte, als ein populistischer Allgemeinplatz. Fakt ist, dass die Bundesrepublik massives Interesse daran hat, den gemeinsamen EU-Binnenmarkt und den Euro als gemeinsame Währung intakt und stabil zu halten. Der Weg dorthin kann nach meiner Ansicht nur über eine weitere Stärkung und konsequente Demokratisierung der europäischen Union führen. Einige zentrale Stationen zur Lösung der aktuellen Problematik haben der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier, und der SPD-Bundesvorsitzende, Sigmar Gabriel, in einem Brief skizziert, den sie am 18. Juli 2011 an die Bundeskanzlerin gerichtet haben. Darin werden folgende Forderungen erhoben:

- Die Gläubiger von Griechenland werden auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten müssen. Im Falle Griechenlands ist eine Umschuldung unausweichlich geworden. Über die Möglichkeit, Anleihen mit einem Abschlag vom Nennwert zurückzukaufen, kann das Land eine erhebliche Entlastung von untragbaren Zinskosten realisieren. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass sich die davon betroffenen Banken und Versicherungen refinanzieren können.

- Wir brauchen eine limitierte Gemeinschaftshaftung der gesamten Euro-Zone für die Anleihen ihrer Mitglieder. Sie ist erforderlich, um auf Dauer eine Beruhigung der Finanzmärkte zu bewirken. Über intelligente Modelle kann ein Teil der Schuld gemeinschaftlich besichert werden, während exzessive Verschuldung weiter im nationalen Risiko verbleibt.

- Wir müssen den betroffenen Staaten eine Perspektive für das Wiedererstarken ihrer Wirtschaft geben. Wir brauchen ein europäisches Modernisierungs- und Wachstumsprogramm. Ohne Unterstützung durch die Europäische Union wird Griechenland nicht auf die Beine kommen. Und ohne eine solche Unterstützung werden die Menschen in Griechenland die unvermeidlichen harten Einschnitte nicht akzeptieren.

- Wir brauchen die Finanztransaktionssteuer. Sie dämmt auch spekulative Finanzgeschäfte ein. Vor allem aber leistet damit der Finanzsektor einen Beitrag zur Bewältigung der Krise, an der viele Marktteilnehmer lange gut verdient haben. Und wir müssen endlich die Regulierung der Finanzmärkte beherzt angehen. Insofern sehen Sie, dass wir für eine stärkere Beteiligung der Gläubiger und eine limitierte Gemeinschaftshaftung einstehen, die unverantwortliches Schuldenmachen einzelner Staaten keineswegs belohnt. Um die Realwirtschaften angeschlagener Mitgliedstaaten zu stärken (und somit auch Absatzmärkte für den deutschen Export zu sichern) gilt es, begleitende Wachstums- und Förderprogramme aufzulegen. Dies entspricht den detaillierter ausformulierten Positionen der SPD-Bundestagfraktion, die Sie unserem Entschließungsantrag vom 9.Juni 2011 entnehmen können http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/061/1706161.pdf

Vor dem Hintergrund Ihrer Zuschrift verweise ich überdies auf Punkt 6 des Antrags, der unsere Forderungen bezüglich einer klar festzuschreibenden Parlamentsbeteiligung umreißt:

„Entscheidend ist es, die Mitwirkungs- und Entscheidungsrechte der nationalen Parlamente und die des Europäischen Parlaments deutlich auszuweiten und mit den haushaltsrechtlichen Anforderungen der Verfassungen vereinbar auszugestalten. Der ESM ist ein Notfallmechanismus eigener Art, der sehr lange finanzielle Bindungswirkungen entfalten kann. Das Budgetrecht als „Königsrecht des Parlaments“ darf dadurch in keinem Fall gefährdet werden.“ In dieser Haltung sehen wir uns auch durch die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt.

Unter den Vorgaben einer entsprechenden Ausgestaltung ist ein funktionierender Mechanismus zur Stabilisierung der Euro-Zone im ureigensten deutschen Interesse. Eine schwarzweißmalerische Diskussion, wie sie den Initiatoren der von abgeordnetencheck.de initiierten Kampagne vorschwebt, ist der Komplexität und Ernsthaftigkeit des Themas nicht angemessen. Inhaltlich hoffe ich, zumindest einige der von Ihnen geäußerten Bedenken ausgeräut zu haben. An der grundsätzlichen Notwendigkeit eines verantwortungsvoll ausgestalteten Europäischen Stabilitätsmechanismus halte ich ausdrücklich fest.

Mit freundlichen Grüßen

Martin Gerster

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