Frage an Martin Gerster bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Martin Gerster
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Frage von Hans B. •

Frage an Martin Gerster von Hans B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Gerster.

Mit Genugtuung einerseits und Erschrecken anderseits habe ich die letzten Umfagewerte der SPD zur Kenntnis genommen. Erschrocken bin ich aber auch über die nach aussen vermittelte Haltung mancher ihrer Parteifreunde, die meinen, dies wäre nur eine Momentaufnahme (Ludwig Stiegler). Die Ursache dieser schlechten Werte wird anscheinend von manchen SPD´lern total verkannt. Ich war immer ein Wähler der SPD, doch seit geraumer Zeit kann ich der Politik ihrer Partei nichts mehr abgewinnen und werde, wenn überhaupt nochmal, die Linke wählen. Ihre Partei in Gestalt von Schröder und Müntefering hat die Interessen der Arbeitnehmerschaft zu Gunsten einer Anbiederung an die Großindustrie und an das Kapital verraten. Dieser Eindruck herrscht bei vielen ehemaligen SPD Sympatisanten vor und kann auch nicht widerlegt werden. Hartz vier, Gesundheitsreform, Steuererleichterungen für die Großindustrie und viele andere Maßnahmen der Regierung Schröder und jetzt als Mitglied der großen Koalition zeigen deutlich auf, welchen verhängnisvollen Weg die SPD eingeschlagen hat und nicht bereit ist, zu verlassen und zu ihren Wurzeln zurück zukehren.

Wie denken Sie persönlich über die weitere Entwicklung in der SPD?

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SPD

Sehr geehrter Herr Brauchle,

vielen Dank für Ihre Frage nach meiner persönlichen Einschätzung zur Lage der SPD, die ich gerne Ihnen gerne schildere. Ihre Wahrnehmung, dass die SPD mit ihren derzeitigen Umfragergebnissen nicht zufrieden sein kann, teile ich. In der Analyse der dahinter stehenden Entwicklungen stimme ich jedoch nicht mit Ihnen überein.

Die SPD befindet sich gegenwärtig in einer schwierigen Position. Auf der einen Seite übernehmen wir Regierungsverantwortung an der Seite eines Partners, der gegenwärtig in der Wählergunst stärker von den – wie ich meine durchaus ansehnlichen – Erfolgen der Koalitionspolitik profitiert. Auf der anderen Seite versucht die von Ihnen erwähnte Linkspartei, Teile der SPD-Anhängerschaft mit dem Versprechen zu ködern, man könne die Probleme von heute mit Parolen von Vorgestern bekämpfen.

Natürlich ist es aus Sicht eines Sozialdemokraten besonders bitter, dass hierbei ausgerechnet ein ehemaliger SPD-Bundesvorsitzender und Finanzminister rücksichtslos die Populismuskarte spielt und immer wieder Ansichten propagiert, die seinen früheren Aussagen völlig widersprechen. Ich gebe Ihnen dafür nur zwei Beispiele: „Wir können auf die ständig steigende Lebenserwartung nicht mit immer kürzerer Lebensarbeitszeit reagieren“, meinte Oskar Lafontaine noch vor zehn Jahren im Interview mit dem Nachrichtenmagazin (Focus Nr. 33/95). Mittlerweile erklärt er zu diesem Thema auf dieser Internet-Plattform: „Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist eine staatlich verordnete Rentenkürzung“ (Antwortschreiben, 22. Juni 2007, abgeordnetenwatch.de). Ähnlich hat sich Lafontaines Verhältnis zum Thema Privatisierung offenbar ins Gegenteil verkehrt, seit er seine Mitarbeit in der Regierung einseitig aufgekündigt hat:

So erklärte er 1997 auf der Konferenz „Moderner Staat in einer modernen Gesellschaft“: „Wenn gesellschaftliche Aufgaben durch private Anbieter besser und preiswerter erledigt werden können, dann haben die Bürger ein Recht darauf, dass die für sie beste Lösung gewählt wird, das heißt dann: Privatisierung“ (04.02.1997). Dem Neuen Deutschland gegenüber äußerte er sich Ende des vergangen Jahres jedoch so: "Es dürfen keine weiteren öffentlichen Einrichtungen privatisiert werden. Stattdessen müssen wir die Steuer und Abgabenquote in Deutschland auf das europäische Niveau anheben" (Gespräch im Neuen Deutschland, 13.02.2006). Eine konsistente Begründung für diesen Sinneswandel bleibt Lafontaine jedoch schuldig. Mit gutem Grund: Dieser Sinneswandel ist Ausdruck einer politischen Beliebigkeit, die mit verantwortungsvollem Handeln nicht zu tun hat.

Sehr geehrter Herr Brauchle,
die SPD hat im Zuge der Regierungsbildung 2005 viele Ressorts übernommen, in denen schwierige und schmerzhafte Reformen durchzusetzen waren. Dennoch gab und gibt es zu diesen Modernisierungsschritten keine realistische Alternative. Allzu oft wird Politikerinnen und Politikern Beliebigkeit vorgeworfen, wenn es darum geht, die Gunst der Wähler zu erringen. Wer aber sein Mandat ernst nimmt, muss auch zu unpopulären Entscheidungen stehen, wenn sie im Grundsatz richtig sind. Das tut die SPD gegenwärtig auf verschiedenen politischen Feldern.

Selbst wenn sich viele den einfachen Weg „zurück in alte Zeiten“ wünschen, es gibt ihn nicht. Die alten Bruchlinien zwischen Arbeitnehmerschaft und Großindustrie sind nicht mehr die allein entscheidenden Koordinaten, auf denen sich eine gegenwartsgemäße Sozial- und Wirtschaftspolitik aufbauen lässt. Um die Herausforderungen des demografischen Wandels und die Wissensgesellschaft sozial gerecht zu bewältigen, fehlen der Konkurrenz von links an tauglichen Konzepten. Die SPD steht hier für die Idee des „vorsorgenden Sozialstaat“, in dem ich Ansätze einer zukunftstauglichen Lösung erkennen kann.

Koalitionen sind bekanntermaßen keine Liebesheiraten und sicherlich wäre unter anderen Umständen auch mehr SPD „drin“. Ich kann an dieser Stelle nur um Ihr Vertrauen werben und bitte Sie – unabhängig von ihren parteipolitischen Vorlieben – weiterhin von Ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Viele Menschen auf der ganzen Welt beneiden Sie darum.

Mit freundlichen Grüßen

Martin Gerster

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