Frage an Peter Wichtel bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Peter Wichtel
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Frage von Horst D. •

Frage an Peter Wichtel von Horst D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Wichtel,

Ihre Antwort an Herrn Bock zum Thema Artikel 146 GG habe ich - als geschichtlich interessierter Bürger - mit Interesse gelesen.

Sie schreiben im letzten Absatz Ihrer Antwort:
"Um es abschließend erneut vereinfacht darzustellen – das Grundgesetz IST die Verfassung der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland."

Im Artikel 146 GG wird jedoch eine klare Unterscheidung zwischen den Begriffen "Grundgesetz" und "Verfassung" vorgenommen, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass das Grundgesetz an dem Tage seine Gültigkeit verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Ich verstehe dies so, dass sich die Verfasser dieses Artikels - wegen der grundsätzlichen staatsrechtlichen Bedeutung - über die begrifflichen Unterschiede sehr wohl im klaren waren und diese Unterscheidung deshalb auch bewußt vorgenommen haben.

Auch der weitergehende Text/Hinweis, dass eine Verfassung vom deutschen Volk in freier Entscheidung zu beschliessen ist, ist sicherlich nicht zufällig, sondern könnte evtl. dem Umstand geschuldet sein, dass das Grundgesetz eben nicht vom Volk, sondern vom Parlamentarischen Rat beschlossen und von den damaligen Volksvertretern und den im späteren Einigungsvertrag genannten Beitrittsländern lediglich angenommen bzw. übernommen wurde.

Ihre Anmerkung bzw. Hinweis: " ...dass die Vorläufigkeit des Grundgesetzes mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 unzweideutig ihr Ende gefunden habe." ist für mich so nicht nachvollziehbar.

Sofern Ihre Anmerkung zutreffen würde, hätte man ja auf den Artikel 146 GG in der aktuellen Fassung verzichten können. Genau dies ist aber nicht geschehen.

Meine Frage:

Wenn das Grundgesetz mit einer Verfassung gleichzusetzen ist, warum wurde der Artikel 146 GG in der überarbeiteten, aktuellen Form beibehalten und nicht gestrichen?

Für die Beantwortung bedanke ich mich im voraus.

Mit freundlichen Grüßen

Horst Dormann

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Sehr geehrter Herr Dormann,

haben Sie vielen Dank für Ihre Frage vom 10. September, auf die ich, nach meiner Antwort auf die Zuschrift von Herrn Bock, gerne präzisierend eingehen werde.

Der Vorschrift des Art. 146 GG in der alten Form („Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“) kamen ursprünglich zwei Funktionen zu. Die Norm war zunächst ein Zeichen des Provisoriums. Das Ziel einer endgültigen Verfassung sollte durch den Wegfall des Besatzungsrechts und durch einen in freier Entscheidung herbeizuführenden Konsens des deutschen Volkes über die Gestalt seiner Verfassung erreicht werden.

Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 Satz 2 GG a. F. hatte sich diese Zielsetzung des Art. 146 GG a. F. eigentlich erledigt, so dass die Norm – wie Sie berechtigterweise fragen - insgesamt hätte gestrichen werden können. Diesem Ansinnen widersetzte sich jedoch die SPD in Bundestag und Bundesrat. Sie machte ihre Zustimmung zu den mit der Wiedervereinigung verbundenen Änderungen des Grundgesetzes davon abhängig, dass Art. 146 GG a. F. fortgeschrieben und der neuen staatsrechtlichen Lage angepasst werde. Dr. Wolfgang Schäuble, seinerzeit Bundesminister des Inneren und zudem Verhandlungsführer der Bundesrepublik Deutschland für den Einigungsvertrag mit der DDR, verdeutlichte in der Plenarsitzung 222 des Deutschen Bundestag am 05. September des Jahres 1990, dass er sich „sehr wohl hätte vorstellen können, dass wir den Art. 146 aus dem Grundgesetz ersatzlos streichen. Aber ich weiß, dass es dafür die notwendigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht gibt.“ Das diesbezügliche Protokoll der Plenardebatte ist im Übrigen in den Archiven des Deutschen Bundestages unter www.bundestag.de einzusehen.
Seit der Verfassungsänderung von 1990 gilt Art. 146 des Grundgesetzes daher in der noch heute aktuellen Fassung.

In der Literatur besteht wie ich bereits in meiner ersten Antwort zur Thematik des Art. 146 GG ausgeführt habe weitgehend Einigkeit darüber, dass dem besagtem Artikel nur deklaratorische Bedeutung zukommt. Die Vorschrift regelt eine verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Selbstverständlichkeit. Es entspricht dem Grundsatz der Volkssouveränität, dass eine neue Verfassungsgebung jederzeit möglich und insoweit auch keine Ermächtigung der vorherigen Verfassung notwendig ist.

Der Vorschrift des Art. 146 GG lässt sich zudem auch keine Anwendungspflicht entnehmen. Sie enthält keinen Auftrag zum Erlass einer neuen Verfassung und
ändert nichts daran, dass das Grundgesetz die dauerhafte Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist. Diese Position wurde auch mehrheitlich von der Gemeinsamen Verfassungskommission vertreten.

Zur vertiefenden Lektüre empfehle ich Ihnen die Ausführungen von Dr. Hans Hofmann in „Kommentar zum Grundgesetz“, herausgegeben von Dr. Bruno Schmidt-Bleibtreu, Dr. Hans Hofmann und Axel Hopfauf. Auch Hans D. Jarass in „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ geht auf die Thematik ein.

Herzliche Grüße

Peter Wichtel