Frage an Annalena Baerbock bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Annalena Baerbock
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Mario H. •

Frage an Annalena Baerbock von Mario H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Baerbock,

da die Politik der Bundesregierung insbesondere einen gestaltenden Charakter haben soll, sind mir folgenden Fragen im Rahmen der Bundestagswahl besonders wichtig:

1.) Wie gedenken Sie mit der Integration von zugezogenen Bürgen aus nicht EU-Ländern umzugehen. Insbesondere ist es im Bezug auf die Flüchtlingslage aufgrund zusammenbrechender (Militär-)Dikataturen in Afrika und Asien aus meiner Sicht besonders wichtig, Asylantragsverfahren zu beschleunigen, um Menschen, die nach Deutschland kommen, eine Planungssicherheit zu geben, ob sie in unserem Land verbleiben und ggf. auch arbeiten können. Darüber hinaus interresiert mich ein Bouns-Malus-Systems als Anreiz zur besseren Integration.

2.) Wie wollen Sie sicherstellen, dass trotz einem groén Sicherheitsbedürfnis, die Freiheitsrechte durch ausländische Geheimdienste aufgrund globaler und nationaler Interessen nicht eingeschränkt werden und Journalisten uneingeschränkt frei handeln können.

3.) Wie stellen Sie die Gemeinschaft Europas hinsichtlich der Schuldenpolitik sicher, wenn in Deutschland nicht einmal die Schwierigkeiten des förderalen Systems (Überschuldung der Kommunen, Streit um Länderfinanzausgleich und Solidaritätsbeitrag)zu vermitteln sind.

Über Ihre Antowrten würde ich mich sehr freuen.

Freundliche Grüße
Mario Hesse

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Hesse,

vielen Dank für Ihre Fragen – auch mir als Völkerrechtlerin liegt eine solidarische Flüchtlings- und Außenpolitik sehr am Herzen.

Zu Ihrer ersten Frage:
Mit Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen, die ihre Heimat aufgrund von Verfolgung verlassen mussten. Asyl findet in Deutschland aber aus meiner Sicht nach wie vor unter Bedingungen statt, die nicht zu einem Land passen, das von sich behauptet, solidarisch und kooperativ im Umgang mit schutzsuchenden Menschen zu sein. Der Hungerstreik von mehreren Flüchtlingen im Abschiebegefängnis in Eisenhüttenstadt verdeutlichte die zum Teil untragbaren Asylregelungen von europäischer bis kommunaler Ebene. In Europa Asyl zu beantragen gleicht einem Lotteriespiel. Die sogenannte Dublin-Verordnung, wonach Flüchtlinge in dem EU-Land, in dem sie zuerst ankommen, ihren Asylantrag stellen müssen, muss daher dringend geändert werden.
Flucht ist kein Verbrechen, sondern Flüchtlinge bedürfen unseren besonderen Schutz.
Angesichts der dramatischen Lage in Syrien, aber auch an vielen anderen Orten dieser Welt, ist es unsere völkerrechtliche Pflicht, mehr Menschen Schutz zu bieten. EU, Bund, Länder und Kommunen müssen hier an einem Strang ziehen und gemeinsam an einer humanen Flüchtlingspolitik arbeiten, anstatt wie Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich vor allem vor den steigenden Flüchtlingszahlen zu warnen.
Wir Bündnisgrünen sagen mit dem Bundesverfassungsgericht: Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht relativierbar! Ich fordere daher die vollständige Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes. Bundesweit wollen wir die Gutscheinpraxis und die Residenzpflicht abschaffen und die unzureichende medizinische Versorgung erheblich verbessern. Auch wollen wir die Ausbildungs- und Arbeitsverbote für Asylsuchende beseitigen. Eine entsprechende Bundesratsinitiative der rot-grünen Länder und Brandenburgs haben wir unterstützt und werden dies auch im Bundestag weiter tun.
Ich vertrete eine Integrationspolitik, die die Vielfalt von Lebensrealitäten in Deutschland schätzt, statt mit hoch erhobenem Zeigefinger zur Einordnung aufzufordern. Deshalb halte ich ein Bonus-Malus-System in Bezug auf Integration für einen falschen Ansatz.

Zu Ihrer zweiten Frage:
Die Waage zwischen Freiheit und Sicherheit ist im Rechtsstaat in Balance zu halten. Nur weil eine massenhafte und schwellenlose Datensammlung technisch möglich ist und von manchen Sicherheitsdiensten gewünscht wird, sind grundrechtliche Prinzipien des Rechtsstaats nicht über Bord zu werfen.
Datenschutz und die informationelle Selbstbestimmung gegenüber Unternehmen und dem Staat ist eines der wichtigsten Bürgerrechte in der digitalen Gesellschaft. Der Datenschutz muss als Grundrecht in der Verfassung verankert werden, um zu verhindern, dass unter dem Deckmantel der sogenannten „Cybersicherheit“ der Abbau eines freien und offenen Internets vorangetrieben wird. Die umfassende und anlasslose Totalüberwachung des Internetverkehrs (ob E-Mail, Voice-over-IP (Skype) oder soziale Netzwerke (Facebook)) durch PRISM und TEMPORA zeigt deutlich, dass unsere Forderungen nach einem soliden Datenschutz UND die Erweiterung des Kommunikationsgeheimnisses dringend notwendig sind. Außerdem wollen wir Grüne die pseudonyme und anonyme Kommunikation gesetzlich absichern.
Kurz gesagt: Ohne Datenschutz gibt es kein freies Internet. Leider wurden jedoch quasi alle nötigen Reformbestrebungen von der schwarz-gelben Bundesregierung an die Wand gefahren und dabei reihenweise Bürgerrechte vernachlässigt. PRISM und TEMPORA stellen nach aktuellem Kenntnisstand in Inhalt und Umfang die größten jemals bekannt gewordenen (Internet-) Überwachungsprojekte von Verkehrs- und Inhaltsdaten (bspw. E-Mailinhalte) dar. Aus unserer Sicht verstößt diese Gesamtüberwachung auch deutscher Privatpersonen und Unternehmen durch die USA und Großbritannien gegen deutsches und europäisches Recht. Das Problem ist jedoch die Umsetzbarkeit , insbesondere, wenn die Bundesregierung nicht einmal Willens ist, Klartext mit der US-Regierung zu reden.
Ich unterstütze daher u.a. auch als einen ersten wichtigen Schritt die laufende Reform des Europäischen Datenschutzrechts (Richtlinie für Polizei- und Justizbereich und Verordnung für Unternehmen und Behörden), die unter anderem den Datenschutz gegenüber Unternehmen aus Drittstaaten stärkt und die Durchsetzungsbefugnisse für die Datenschutzbehörden erhöht. Damit wird auch der Grundrechts- und Verbraucherschutz gegenüber Anbietern sozialer Netzwerke (Facebook etc.) verbessert.

Zu Ihrer dritten Frage, übrigens eine sehr gute Frage!:
Aktuelle Umfragen belegen, dass das Vertrauen der europäischen BürgerInnen in die europäischen Institutionen sinkt. Das ist aus meiner Sicht aber nicht gleichzusetzen damit, dass die Bereitschaft zur Solidarität sinkt. Abneigung gibt es vor allem gegen das schlechte und intransparente Krisenmanagement.
Es fehlt eine demokratisch legitimierte, aufeinander abgestimmte Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik. Dafür brauchen wir wirksamere Steuerungsverfahren und starke Parlamente. Eine gemeinsame Währung auf der einen Seite ist nicht mit wirtschafts- und haushaltspolitischer Kleinstaaterei auf der anderen Seite zu vereinbaren.
Die Aufgabe einer „EU-Wirtschaftsregierung“ wird sein, unter Federführung der Gemeinschaftsinstitutionen (EU-Kommission und Europäisches Parlament) die Verständigung zwischen unterschiedlichen Interessen von EU-Mitgliedstaaten und Regionen demokratisch zu organisieren und vor allem transparent zu kommunizieren.
Es wird innerhalb Europas ebenso wie innerhalb Deutschlands immer wirtschaftlich unterschiedlich stark entwickelte Regionen geben. Wichtig ist daher immer wieder deutlich zu machen, dass wir nur so stark sind wie die Summe unserer Teile. Dass dies von sehr vielen Menschen auch geteilt wird, zeigt sich aus meiner Sicht daran, dass zwar öffentlich gerne über abstrakte Begriffe wie Länderfinanzausgleich oder Nettozahler diskutiert wird, die grundsätzliche Solidarität der Regionen aber nicht in Frage gestellt wird.

Soweit zu Ihren Fragen. Falls noch etwas offen geblieben sein sollte, kontaktieren Sie mich gerne noch einmal.

Mit freundlichen Grüßen,

Annalena Baerbock

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