Frage an Annalena Baerbock von Birgit S. bezüglich Jugend
Sehr geehrte Frau Baerbock,
es geht um die geplante Ausbildung und die zu erwartende Ausbildungsvergütung unserer 16,5-jährigen Pflegetochter, die nach der 10. Klasse im Sommer ihre Schulzeit beendet.
Die Situation: laut § 94, Sozialgesetz werden sozial ohnehin benachteiligten Jugendlichen, die fremduntergebracht aufwachsen, also Heim- und Pflegekindern, 75% ihres Ausbildungsgehaltes vom Staat abgezogen, damit sie die Kosten ihrer Unterbringung mitfinanzieren. Ihnen bleibt also nur ein Anerkennungstaschengeld als Entlohnung für eine anstrengende Fulltimeausbildung.
Das Problem: Unsere Pflegetochter hat von dieser Regelung erfahren, will deshalb keine Ausbildung mehr anstreben und strengt sich auch nicht mehr für das Lernen der anstehenden Schulabschlussprüfungen an. Sie sieht ja im Vergleich, dass Jugendliche, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen dürfen, das gesamte Ausbildungsgehalt für sich einbehalten.
Die Wut darüber, was ihr die leiblichen Eltern angetan haben steigt. Und wir als Pflegefamilie befürchten, das unsere Tochter den Weg in die Abhängigkeit vom Sozialamt einschlägt und sich Denkmuster der Herkunftsfamilie fortsetzen.
Die Frage: Kann die genannte Ungerechtigkeit, die Pflegekinder benachteiligt, politisch verändert bzw. am besten aufgehoben werden? Was können wir als Pflegeeltern tun, um in dieser Hinsicht Sie als Politikerin zu unterstützen?
Mit freundlichem Gruß
B. S.
Sehr geehrter Frau S.,
vielen Dank für Ihre Nachricht und bitte entschuldigen Sie die späte Antwort.
Auch wir Bündnisgrüne finden die Kostenheranziehung von Pflegekinder in der heutigen Ausgestaltung ungerecht und vor allem demotivierend für junge Menschen auf dem Weg in die Unabhängigkeit.
Manche Leistungen - wie das BAföG bei einer schulischen Ausbildung oder die Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) der Agentur für Arbeit - dienen dem gleichen Zweck wie das Pflegegeld nach § 39 SGB VIII, nämlich dem Unterhalt. Deshalb müssen diese an das Jugendamt abgeführt werden, sodass dem jungen Menschen kein zusätzliches Geld zur Verfügung steht.
Bei einer beruflichen Ausbildung ist der Arbeitgeber verpflichtet, ein Lehrlingsentgelt zu zahlen. Dies nehmen einige Jugendämter zum Anlass, Jugendliche zu ihren Unterhaltskosten heranzuziehen, ihnen also von ihrem Lehrlingsentgelt etwas abzufordern.
Schon seit langem wird hier von Fachverbänden und auch uns BÜNDNISGRÜNEN eine gesetzliche Änderung bzw. Klarstellung gefordert, denn die Position des Jugendamtes: „75% vom Ausbildungseinkommen der/des Jugendlichen für den eigenen Unterhalt eingesetzt werden.“ Aus unserer Sicht ist es rechtlich nicht korrekt.
Seit 2013 gibt es mit dem KJVVG eine Klarstellung zum anzusetzenden Einkommenszeitraum bei einer Kostenheranziehung. § 93 Abs. 4 SGB VIII regelt eindeutig, dass als zu Grunde zu legendes Einkommen das durchschnittliche Jahreseinkommen des vorangegangenen Kalenderjahres anzusetzen ist – und nicht das aktuelle Einkommen.
In mehreren Urteilen und Gutachten wird dies klar bestätigt und die oft noch gängige Praxis der Jugendhilfe infrage gestellt. (z.B. Urteil des OVG Cottbus VG K 568/16 vom 03.02.2017, Urteil des VG Berlin VG 18 K 443.14 vom 05.03.2015, sowie in Rechtsgutachten DIJuF Rechtsgutachten SN_2017_0557 Kr vom 22.08.2017 und Rechtskommentar Hauck, Erich Schmidt Verlag (Stähr zu § 94 III Nr.8 RN 29))
Im Rahmen der aktuell diskutierten Reform der Kinder- und Jugendhilfe liegt bereits ein konkreter Vorschlag aus dem Familienministerium vor, den § 94 Absatz 6 im SGB VIII zu ändern. Vorgesehen ist, dass nur noch 50 Prozent des Einkommens des Pflegekindes herangezogen werden sollen, in Kombination mit einem Freibetrag in Bezug auf das Einkommen im Rahmen einer Ausbildung, Schüler- oder Ferienjob oder Praktika. Die Reform der Kinder- und Jugendhilfe wird jedoch frühestens 2020 beschlossen.
Mit freundlichen Grüßen
Team Annalena Baerbock