Frage an Cem Özdemir bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Cem Özdemir
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Frage von Murat D. •

Frage an Cem Özdemir von Murat D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Özdemir,

Ihre Einlassungen zum Thema PKK haben mich irritiert! Sie scheinen das Konzept der türkischen Regierung, nämlich die Reduzierung der Kurdenfrage auf ein Terrorproblem, übernommen zu haben.

Statt die PKK zu verbieten würde ich sie doch gerne einmal nach Alternativen fragen, zumal die türkische Regierung zahlreiche Friedensangebote der PKK seit 1992 ( http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_99/30/12b.htm ) nicht einmal kommentiert, geschweige denn das Gespräch mit der PKK sucht.
Und um Sie einmal daran zu erinnern, die PLO mit Arafat an der Spitze wurde ebenfalls noch vor einiger Zeit als Terrororganisation verschrien und gemieden, ebenfalls die IRA in Irland, heute stellen diese ehemaligen Terroristen die vom Volk legitimierte und demokratisch gewählte Regierung.

Die PKK ist nicht eine aus dem Nichts entstandene und aus reiner Langeweile, entschuldigen Sie die spielerische Vereinfachung, agierende Volksguerrilla. Sie ist das Symptom der kurdischen Tragödie, sie ist das direkte Produkt der türkischen Vernichtungspolitik gegen das kurdische Volk.

Ich glaube nicht das eine Verbotsverfügung in einem so komplexen Sachverhalt, wie sich nun mal der kurdisch-türkisch Konflikt darstellt, uns weiterbringt, geschweige denn zur Lösung dieses Konflikts beiträgt.

Ich würde Sie gerne fragen, welche Effekte Sie sich aus einer strikten Umsetzung des Verbots der PKK erhoffen und welche Alternativen Sie dazu sehen, um beispielsweise die Türken dazu zu bringen, die kurdische Identität als solche anzuerkennen und zu bewahren. Jedoch möchte ich Sie daran erinnern, so wie Herr Can schon erwähnte, dass die auf Druck der EU erlassenen Gesetze zum Schutz der kurdischen Minderheit reine potjomkinsche Dörfer sind, dies beweist der Bericht über die Türkei-Reise einer internationalen Menschenrechtsdelegation nach Ankara und Istanbul vom 16. bis 20. Januar 2005 (siehe dazu: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Tuerkei/menschenrechte.html )

Mit freundlichen Grüssen
Demirkaya

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Sehr geehrter Herr Demirkaya,

ich reduziere die Kurdenfrage nicht auf ein Terrorproblem - vielmehr sage ich, dass sich die Kurdenfrage nicht mit Terrorismus lösen lässt. Nach meinem Verständnis ist das doch ein gewaltiger Unterschied.

Ich finde es jedenfalls bemerkenswert, dass manche Sympathisanten der PKK offenbar kein Problem darin sehen, dass sie mit dieser Einstellung implizit bis explizit Terrorismus als ein Mittel politischer Konfliktlösung gutheißen. Und wer die PKK als eine Organisation darstellt, die einen Freiheitskampf betreibt, den frage ich: Welche Freiheit eigentlich? Was versteht die PKK angesichts ihrer stalinistischen Struktur eigentlich unter Freiheit? Das ist de facto nicht die Freiheit, die ich meine.

Ich finde es ebenso bemerkenswert, wie aus meiner kritischen Einschätzung der PKK und ihrer Methoden quasi gleichsam automatisch die Schlussfolgerung gezogen wird, ich würde die bisherige oder aktuelle Politik türkischer Regierungen kritiklos unterstützen. Wenn Sie einen Blick auf meine öffentlichen Kommentare und Stellungnahmen der letzten zehn Jahre werfen, werden Sie erkennen, dass ich die Türkei für ihre mitunter bornierte Politik mehr als einmal und deutlich kritisiert habe (Sie können auch gerne einen Blick www.cem-ozdemir.de/tuerkei-eu werfen). Als Leser der einschlägigen türkischen Zeitungen kennen Sie vielleicht deren Reaktionen ("Nestbeschmutzer" etc.).

Für alle beteiligten Seiten gilt: Mit Gewalt, ob diese nun vom türkischen Militär oder der PKK ausgeht, wird dieser Konflikt niemals zu lösen sein (und manche, die Gewalt anwenden, haben vielleicht auch gar kein Interesse an einer Lösung...). Das ist für mich keine naive Politik, sondern vielmehr der einzige Weg für die Türkei hin zu einer rechtsstaatlichen Demokratie, in der die Bürger nicht in erster Linie Sunniten, Aleviten und Kurden sind, sondern zuallererst einmal gleiche Staatsbürger, die eine bestimmte ethnische und religiöse Identität haben.

De facto muss die Türkei ihre Politik gegenüber ihren ethnischen und religiösen Minderheiten ändern und demokratisieren. Das hat vielerlei Konsequenzen. Während des Besuchs des Dersim-Festivals habe ich ein zerstörtes Dorf besucht und unterstütze die Berliner Dersim-Gemeinde bei Ihren Bemühungen für dessen Wiederaufbau. Auch dies ist Teil der Kurdenfrage.

Mit freundlichen Grüßen

Cem Özdemir

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