Frage an Cem Özdemir bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Cem Özdemir
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Frage von Christof W. •

Frage an Cem Özdemir von Christof W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Hallo Herr Özdemir,

Sie als Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund frage ich: wie stehen die Institution der EU und Sie als EU-Abgeordneter zu dem anstehenden Erlaubnis des Kopftuches in türkischen Bildungseinrichtungen?
Vor allem vor dem Hintergrund, dass der türkische Außenminister behauptet mit Blick auf den EU-Beitritt müsste dieses Gesetz verabschiedet werden.

Viele Grüße,
Christof Weisenbacher

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Sehr geehrter Herr Weisenbacher,

in einem Kommentar für die Tageszeitung WELT habe ich erklärt, dass die Türkei und die dortige Gesellschaft "stark genug" ist, das "Kopftuch zu ertragen". Den Artikel finden Sie hier:

http://www.welt.de/wams_print/article1206071/Die_Tuerkei_ist_stark_genug_das_Kopftuch_zu_ertragen.html

bzw. untenstehend, denn er ist Teil meiner Antwort. Danach werde ich den Faden wieder aufnehmen. Hier zunächst der Text:

WELT, 23.09.2007

Die Türkei ist stark genug, das Kopftuch zu ertragen

Die Wahlen im Sommer dieses Jahres hatten den Reformprozess in der Türkei zum Erliegen gebracht. Nachdem das Volk die Alleinregierung der AKP bestätigt hat und der ehemalige Außenminister Abdullah Gül in den Präsidentenpalast eingezogen ist, macht sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit einer Verfassungsreform wieder an die Arbeit - und fasst dabei mit dem Kopftuchverbot für Studentinnen ein heißes Eisen an. Während das Kopftuchverbot für die Kemalisten der Garant der säkularen Identität der Türkei ist, kritisieren muslimische Gläubige die Einschränkung ihrer Religionsfreiheit. Das Thema erregt die Gemüter in der Türkei wie kaum ein anderes.

Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten gilt das Kopftuchverbot in der Türkei nicht nur für Staatsbedienstete wie Lehrerinnen oder Richterinnen. Die Gesetzeslage in der Türkei ist auch nicht mit Frankreich zu vergleichen, wo die Frage am strengsten geregelt ist und religiöse Symbole an öffentlichen Schulen sowohl für Lehrer als auch für Schüler verboten sind. In der Türkei ist das Tragen eines Kopftuchs vielmehr im gesamten staatlich-öffentlichen Raum verboten. Im Alltagsleben kann das ebenso bizarre wie traurige Züge annehmen: Die Mutter einer Absolventin durfte nicht an der Abschlussfeier ihrer Tochter teilnehmen - ihr wurde der Zutritt zum Universitätsgebäude verwehrt, da sie ein Kopftuch trug.

Die Annäherung an die EU sollte die Türkei in die Lage versetzen, sich von den Reflexen eines sich neu konstituierenden Nationalstaates, der sein Volk ethnisch, sprachlich und religiös homogenisieren will, loszusagen. Dazu gehört die Überwindung der unbegründeten Angst vor einem Religionsstaat ebenso wie die Gewährleistung der Religionsfreiheit für christliche Minderheiten, Yeziden, Aleviten, aber auch für die sunnitische Mehrheit. Entsprechend sollte das Kopftuchverbot gelockert und die Gesetzeslage an die westeuropäischen Länder angepasst werden.

Nicht weil es die EU fordert (sie tut es nicht), sondern weil der Konflikt einen dauerhaften gesellschaftlichen Frieden geradezu verhindert und ein Konsens das türkische Modell einer Demokratie mit muslimischer Mehrheit stärken würde. In der Kopftuch-Debatte in Deutschland wies Jan Philipp Reemtsma auf eine Dimension hin, die er als den "Stolz der säkularen Gesellschaft" bezeichnet hat: Der Staat solle sich den Blick auf ein Kleidungsstück nicht von einem religiösen Bekenntnis vorschreiben lassen; die Menschen könnten - in gewissen Grenzen - anziehen, was sie wollen. Die Türkei sollte stolz genug sein, sich bei der Ziehung dieser Grenze nicht von Angst lenken zu lassen und die Buntheit der Motive, Lebenssituationen und gesellschaftlichen Funktionen der Kopftuchträgerinnen zu berücksichtigen. Auch wenn viele darunter eine islamisch-konservative Weltanschauung haben, so sollten sie diese im Rahmen der türkischen Verfassung ebenso leben können, wie es christlich-konservative Wählerinnen der CSU in Bayern tun.

Es kann sich dabei aber nicht um ein einseitiges Zugeständnis an die Wählerschaft der AKP handeln. Deshalb muss, wie gegenwärtig diskutiert, zugleich der - auch für Aleviten - obligatorische Besuch des sunnitisch-islamischen Religionsunterrichts aufgehoben werden. Die eigentliche Bewährungsprobe kommt aber erst nach einer Lockerung des Kopftuchverbotes: An der Istanbuler Bogazici-Universität werden junge Frauen mit und ohne Kopftuch einträchtig zusammen studieren. Aber was passiert an den Universitäten im Osten des Landes? Dort besteht die Gefahr, dass Studentinnen ohne Kopftuch sich stigmatisiert fühlen oder unter Druck gesetzt werden. Manche Sunniten und Aleviten, die im Ramadan nicht fasten, schalten frühmorgens bei Sonnenaufgang das Licht an, um in ihrer religiös-konservativen Umgebung keinen "falschen" Eindruck zu hinterlassen. Eine Demokratie muss Verschiedenheit und Vielfalt wenn nicht fördern, so doch zumindest aushalten. Zu dieser Vielfalt gehören freiwillig das Kopftuch tragende Studentinnen ebenso wie Gläubige, die andere Lebensstile tolerieren.

Der Autor ist Mitglied des Europäischen Parlaments (Fraktion Grüne/EFA)

Wie Sie erkennen können, trete ich dafür ein, dass die Türkei das Kopftuchverbot für Studierende lockert bzw. aufhebt und die Gesetzeslage an die EU-Mitgliedstaaten anpasst.

Sie sprechen auch die europäischen Institutionen und den EU-Beitritt an. In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes verweisen, das im Jahr 2005 urteilte, dass das Kopftuchverbot an türkischen Hochschulen nicht gegen die Grundrechte auf Bildung und Religionsfreiheit verstößt:

http://www.tagesschau.de/ausland/meldung151652.html

Vor diesem Hintergrund ist die Regelung weniger eine Frage des EU-Beitritts, als vielmehr der Abwägung verschiedener Grundrechte. Die vom Parlament mitterweile beschlossene Abschaffung des Kopftuch-Verbots für Studenten stellt aus meiner Sicht die laizistische Republik nicht in Frage. Es gibt auch keine "europäische" Norm. Die Mitgliedstaaten gehen mit religiösen Symbolen in den Bildungseinrichtungen sehr unterschiedlich um. Es gibt jedoch keinen Mitgliedstaat, der Kopftücher oder Bekleidung mit religiösen Symbolen in den Hochschulen verbieten. Aus europäischer Sicht entscheidend ist jedoch letztlich weniger, ob das Verbot aufgehoben oder beibehalten wird, sondern vielmehr, dass die Kopftuchfrage in demokratischer und rechtstaatlicher Art und Weise behandelt und beantwortet wird (und nicht etwa über ein Verbot der Regierungspartei AKP, wie es momentan erwogen wird).

Mit besten Grüßen

Cem Özdemir

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