Frage an Gabriele Zimmer bezüglich Verbraucherschutz

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Gabriele Zimmer
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Frage von Dietrich B. •

Frage an Gabriele Zimmer von Dietrich B. bezüglich Verbraucherschutz

Sehr geehrte Frau Zimmer,

angesichts einiger aktueller Entwicklungen (Irland, Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann) habe ich zwei Fragen(komplexe) an Sie und die EU-Kandidaten der LINKEN:

(1)
Wie positionieren Sie sich angesichtes des widersprüchlichen Verhältnisses von Mehrheit und Richtigkeit (über das sich wohl zu philosophieren lohnt) zu Volksentscheiden in der EU?.
(Negativ(st)es Beispiel: Auch die NSDAP hat - unter unterstützter und strategischer Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen - einmal eine Mehrheit im Deutschen Reich gehabt …)
Halten Sie es für richtig, in Irland einen zweiten Volksentscheid zum Lissabon-Vertrag durchzuführen (und nach einem zweiten evtl. einen dritten ...)?

(2)
Einstimmigkeitsentscheidungen kamen in der Verblichenen (DDR) u.a. deshalb zustande, weil - oft auch indirekt - gefragt wurde:
Stimmst Du damit ODER damit ODER damit ODER … überein?
Wenn ja (wenn Du also auch nur einem der Punkte zustimmst), dann kannst Du auch insgesamt zustimmen. (Ausdruck dafür ist u.a. die berühmt-berüchtigte Frage: Bist Du für den Frieden? Heute spricht man dann wohl von einem "Schritt in die richtige Richtung" und verdrängt das Krötenschlucken.)
Richtigerweise hätte es wohl heißen müssen:
Bist Du damit UND damit UND damit UND … einverstanden, dann stimme zu. Wobei die einzelnen Punkte, im Gegensatz zur ODER-Frage, nicht gleichgewichtet sind und die "weniger wichtigen" - im Sinne notwendiger Kompromisse - zur Diskussion stehen können.
Angesichts der Pauschalschelte von Frau Dr. K. nach dieser längeren Vorrede die Fragen:
Welches wird Ihr Maßstab sein, Entwürfen zuzustimmen oder sie abzulehnen?
Gibt es für Sie nicht verhandelbare K.O.-Kriterien ("Essentials"); welche Kröten werden Sie keinesfalls schlucken?
Welches Ihrer Essentials hat Frau Dr. K. mit Ihrer Befürwortung des Lissabon-Vertrages verletzt?
Was halten Sie in diesem Zusammenhang von "Fraktionszwang" bzw. "Fraktionsdisziplin"?

Vielen Dank im voraus für eine Antwort (bis 06.06.2009) und
beste Grüße

Dietrich Bicher

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DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Bicher,

In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen EU-Verträge, die von den Regierungschefs unterzeichnet wurden, entsprechend dem für den jeweiligen Staat verfassungsrechtlich festgelegten Verfahren ratifiziert werden. In den meisten Staaten bedeutet dies eine Abstimmung des Parlaments und gegebenenfalls einer weiteren Kammer (in Deutschland der Bundesrat). Auch ob die jeweilige nationale Verfassung dafür eine einfache Mehrheit der Abgeordneten vorschreibt, oder eine 2/3-Mehrheit oder sogar mehr, ist unterschiedlich. Andere Staaten schreiben für die Bestätigung von EU-Verträgen zusätzlich ein Referendum vor, oder lassen diese Möglichkeit zumindest grundsätzlich zu. Über den so genannten Verfassungsvertrag wurde abgestimmt in: Frankreich, Luxemburg (konsultativ), Niederlande (konsultativ) und Spanien (konsultativ). Nach der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden wurden die für Dänemark, Irland, Polen, Portugal, Tschechien und Großbritannien geplanten Referenden nicht mehr durchgeführt. Der Lissabon-Vertrag wurde inzwischen in 26 Staaten nur noch durch die Parlamente ratifiziert. Einzig in Irland wurde zusätzlich ein Referendum durchgeführt, in welchem die irische Bevölkerung den Vertrag mehrheitlich ablehnte.

Die Europaabgeordneten der LINKEN fordern, dass auch in Deutschland über künftige EU-Verträge durch ein Referendum entschieden wird. Darüber hinaus unterstützen sie auch die Bewegungen für die Einführung von Referenden in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Sie sehen in den EU-Verträgen Texte, die Veränderungen von so großer Tragweite mit sich bringen, dass die Entscheidung darüber direkt bei der Bevölkerung als dem höchsten politischen Souverän liegen sollte. Unabhängig vom Ergebnis sind solche Entscheidungen zu wichtig, als das sie lediglich an die politische Kaste in den Parlamenten delegiert werden sollten.

Um es auf den Punkt zu bringen:
Ich bin pro Referenden, weil:

- durch die Kampagnen für ein Ja oder ein Nein das Wissen der Bürgerinnen und Bürger über die Europäische Union vertieft würde;

- die Menschen direkt dazu beitragen könnten, dass sich Europa in eine Richtung entwickelt, die sie selbst wünschen;

- durch diese demokratische Mitentscheidung die Identifikation der Menschen mit der Europäischen Integration wachsen könnte;

- die wachsende Entfremdung der Menschen von "Brüssel" aufgehalten werden könnte;

- die europäischen Institutionen gezwungen wären, sich stärker an den Zielen und Bedürfnissen der Bevölkerung zu orientieren;

- wir eine Gelegenheit hätten, uns in unserer eigenen Kampagne für eine Europäische Union einzusetzen, die Krieg als Mittel der Politik ablehnt, die die sozialen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung nachhaltig schützt und mit dem notwendigen ökologischen Umbau in Einklang bringt.

Bezüglich Ihrer Frage zu meiner Haltung zu einem zweiten Referendum in Irland möchte ich Ihnen ebenfalls antworten. Wenn in Irland nun ein substantiell geänderter Vertragstext vorgelegt wird, dann hätte das erste irische No damit bereits etwas bewirkt. Bedingt durch die irische Verfassung wäre allerdings ein erneutes Referendum unumgänglich, um den Vertrag in Irland zu ratifizieren.

Welche Veränderungen der irischen Bevölkerung tatsächlich vorgeschlagen werden, ist allerdings noch in der Verhandlung. Sowohl die Inhalte als auch der Grad der Rechtsverbindlichkeit dieser Protokolle wird in Irland sicherlich intensiv geprüft werden. Der Ausgang des Referendums erscheint zum heutigen Zeitpunkt völlig offen. Viele Menschen empfinden es jedoch bereits jetzt als einen Mangel an Respekt gegenüber ihrer Entscheidung, im Herbst erneut an die Wahlurnen gerufen zu werden.

Zu Ihrem Fragekomplex zum Lissabon-Vertrag kann ich Ihnen versichern, dass sowohl ich selbst als auch meine Fraktion hierzu einen klaren Standpunkt bezogen hat.

Sechs von sieben Europaabgeordneten der LINKEN haben im Europäischen Parlament gegen den Lissabon-Vertrag gestimmt, ebenso wie sämtliche weitere Abgeordnete der Linksfraktion (GUE/NGL) im EP.

Mit ihrer Nein-Stimme brachten die Europaabgeordneten LINKEN damit zunächst einmal ihre Kritik am Verfahren zum Ausdruck. Sie fordern, dass künftig auch in Deutschland und möglichst auch in allen anderen Mitgliedstaaten die Bürgerinnen und Bürger direkt gefragt werden, ob sie der Qualität und den Auswirkungen von wesentlichen Veränderungen in der Vertragsgrundlage der Europäischen Union zustimmen.

Mit dem Lissabon-Vertrag wurde erneut eine Gelegenheit verpasst, die Europäische Union auf eine friedensorientierte Außenpolitik zu verpflichten. Ähnlich dem Artikel 9 der japanischen Verfassung hätte der Vertrag ein Verbot von Angriffskriegen enthalten können. Stattdessen enthält er die Verpflichtung für alle Mitgliedstaaten, ihre militärischen Fähigkeiten ständig zu verbessern. Die im Vertrag vorgesehene verstärkte Kooperation mit der NATO und die angestrebte eigenständige militärische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sind Zeugnis des Wunschtraums sozialdemokratischer, liberaler und konservativer Parteien, als militärischer Akteur endlich weltweit auf Augenhöhe mit den USA und anderen Mächten operieren zu können. Die Abgeordneten der LINKEN lehnen dieses Ziel kategorisch ab und treten konsequent dafür ein, die Europäische Union vertraglich festgelegt in eine reine Friedensmacht umzuwandeln.

Urteile des Europäischen Gerichtshofes haben 2008 auch gezeigt, dass der heute gültige Vertrag von Nizza keinen ausreichenden Schutz für europäische Beschäftigte und ihre Gewerkschaften bietet. Der Nizza-Vertrag konzentriert sich wie seine Vorläufer auf den Schutz von Unternehmerfreiheiten. Ein neuer EU-Vertrag hätte daher dringend um vertragliche Festschreibungen ergänzt werden müssen, die dem Sozialschutz Vorrang geben. Der Lissabon-Vertrag leistet dies nicht.

Der Lissabon-Vertrag räumt auch nicht mit institutionellen Demokratiedefiziten in der Europäischen Union auf. Während in all ihren Mitgliedstaaten sorgfältig auf eine Gewaltentrennung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative geachtet wird, reisen die Regierungen weiter zu ihren Gipfeltreffen und ergreifen dort plötzlich die gesetzgeberische Verantwortung, die in ihren eigenen Ländern den Parlamenten vorbehalten ist. Die Europaabgeordneten der LINKEN erkennen zwar an, dass der Lissabon-Vertrag die Rechte des Europäischen Parlaments weiter stärkt, das grundsätzliche Problem in der Gewaltenteilung jedoch nicht behebt. Vor diesem Hintergrund knüpfen die Abgeordneten daher die Übertragung weiterer Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene an die Bedingung, dass damit kein Verlust an parlamentarischer Kontrolle in den jeweiligen Politikfeldern einhergeht. Andernfalls würde sich die Europäische Union weiter von ihren Bürgerinnen und Bürgern entfremden. Der Integrationsprozess wäre gefährdet.

Schließlich korrigiert der Lissabon-Vertrag auch nicht die problematische Rolle der Europäischen Zentralbank. Sie bleibt weiterhin politischen Vorgaben weitgehend entzogen und operiert unter einem Mandat, das Preis- und Geldwertstabilität den Vorrang gegenüber der Unterstützung von sozial- und beschäftigungspolitischen Zielstellungen gibt.

Aus diesen inhaltlichen Gründen haben die Abgeordneten den Lissabon-Vertrag abgelehnt. Sie haben NEIN gesagt, gerade weil sie FÜR die europäische Integration sind. Sie fordern vertragliche Grundlagen für die Europäische Union, die ein friedliches, demokratisches, sozial und ökologisch nachhaltiges Europa in einer gleichberechtigten und solidarischen Welt ermöglichen und garantieren. An der Ausarbeitung und der Abstimmung über die zukünftige Verfasstheit der Union müssen die Bürgerinnen und Bürger beteiligt sein.

Was Ihre Frage nach einem Fraktionszwang angeht: dieses Instrument wird in den Fraktionen im Europäischen Parlament nicht angewendet. Die Vielfalt an Parteien und nationalen Delegationen, aus denen dort die Fraktionen gebildet werden, lässt immer wieder politische Standpunkte zu einzelnen Themen voneinander abweichen. Gerade die Linksfraktion im Europäischen Parlament, die GUE/NGL, versteht sich explizit als konföderale Fraktion und betont dies auch als Grundlage ihrer Zusammenarbeit.

Ich hoffe, ich konnte Ihre Fragen zu Ihrer Zufriedenheit beantworten.

Mit freundlichen Grüßen,

Gabi Zimmer