Frage an Georgios Chatzimarkakis bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Georgios Chatzimarkakis
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Frage an Georgios Chatzimarkakis von Hein M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Dr. Chatzimarkakis,

am 29.04. strahlte "Deutschlandradio" eine Diskussionsrunde zum Thema "Die EU in der Weltwirtschaftskrise" aus, an der Sie teilnahmen. Im Verlauf der Debatte sagten Sie, dass alle Wähler, die nicht an einer Wahl teilnämen, erklären würden, mit den Verhältnissen zufrieden zu sein. Zur Klarstellung: Der Nichtwähler macht von seinem Recht Gebrauch, das ihm der Grundgesetzgeber ausdrücklich einräumen wollten. Ausweislich der Unterlagen zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates (Quelle: "Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle", Deutscher Bundestag) wurde die Wahlenthaltung diskutiert und am Ende als unverzichtbare Möglichkeit der politischen Meinungsäußerung befürwortet. Das Ratsmitglied Georg Diederichs stellte fest (Quelle: s.o.), dass dies auch eine Wahl sei. Das ist gewissermaßen der vornehmste Ausdruck zivilisierter Unzufriedenheit und stellt klar, dass der Bürger mit dem Wahlangebot (FDP u.a.) unzufrieden ist. Es verschlägt einem die Sprache, dass Sie denjenigen, die bewusst nicht zur Wahl gehen, gerade weil sie mit der Politik dieser Parteien, für die auch Sie stehen, unzufrieden sind, unterstellen, sie seien in Wahrheit mit den Verhältnissen zufrieden. Sie negieren nicht nur den Wählerwillen, sondern machen sich auch noch über die verfassungsmäßigen Rechte der Nichtwähler und ihre Wahlentscheidung lustig! Sie tun das, was die Nichtwähler den Parteien vorwerfen: Sie nehmen die Bürger nicht ernst. Meine Frage vor diesem Hintergrund an Sie ist deshalb: Warum glauben Sie, mit derlei Äußerungen die Menschen an die Wahlurnen holen und für die Sache der etablierten Parteien interessieren zu können?

Mit freundlichem Gruß, H. Mück

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ÖDP

Sehr geehrter Herr Mück,

vielen Dank für Ihr engagiertes "Nachhaken" in Bezug auf die Sendung am 29.04.09 im Deutschlandfunk. Sie schreiben, dass Sie sogar im Publikum saßen. Schade, dass Sie mich nicht in der abschließenden Publikumsdiskussion angesprochen haben. Dann hätten wir sicherlich eine interessante und spannende Diskussion gehabt!

Dann also auf diesem Weg: Kern Ihrer Anfrage ist, dass ich als Politiker die Bürger nicht ernst nehmen und mich sogar über sie "lustig" machen würde. Sie führen das auf meine Äußerung zurück, in der ich erklärt hatte, dass im Großen und Ganzen diejenigen, die nicht wählen würden, mit den Verhältnissen zufrieden seien. Hinter dieser These stehe ich nach wie vor.

Doch zunächst zu Ihrer Hauptkritik: Sie argumentieren, dass eine Wahlenthaltung "gewissermaßen der vornehmste Ausdruck zivilisierter Unzufriedenheit" sei, also der Hauptgrund bei Nichtwählern. Ich denke wir sind uns beide einig, dass für eine Wahlenthaltung nicht zwangsläufig und gesetzmäßig Unzufriedenheit mit der Demokratie der Grund sein kann. Das wäre genau so eine Verallgemeinerung wie Sie sie ja auch mir vorwerfen - nur mit umgekehrten Vorzeichen.

Als Politikwissenschaftler habe ich mich im Laufe meines Studiums ausführlich mit Wahlforschung befasst - und hier natürlich auch mit der Gruppe der Nichtwähler. Der Nichtwähler ist dabei bis heute weitgehend ein unbekanntes Wesen geblieben, wie Dr. Norbert Kersting 2004 in der Zeitschrift für Politikwissenschaft schreibt (Aufsatztitel: "Nichtwähler: Diagnose und Therapieversuche", Zpol 2/04, S. 404-427).

Laut der bisher vorliegenden Studien, die Kersting exzellent zusammenfasst, gibt es folgende Gründe, warum Wähler zu Nichtwählern werden: a) der sozioökonomische Status (z.B. Bildungsniveau), b) Altersgründe (sinkendes Interesse für Politik, körperliche Beeinträchtigungen, c) Rollenmuster (Frauen wählen seltener), d) soziale Netzwerke (in einem politisch motivierten Milieu kommt es eher zur Wahlteilnahme) oder e) Normalisierung der Demokratie, sinkendes "Wahlpflichtbewusstsein" auf Seiten der Wähler. Übrigens ist die Wahlbeteiligung in Deutschland gar nicht so schlecht. Im internationalen Vergleich ist sie immer noch sehr hoch. Das ist auch sehr gut im erwähnten Aufsatz von Kersting nachzulesen.

Ein anderer, wesentlicher Grund, der gerade auch bei den Europawahlen hinzukommt, ist die Medienberichterstattung. Wenn viel berichtet wird oder zumindest in den Medien kommuniziert wird, dass es um eine wichtige Entscheidung geht (nehmen Sie nur die Bundestagswahl 1998 bzw. 2002), steigt auch bei den Wählerinnen und Wählern das Bewusstsein für eine Teilnahme, ergo die Wahlbeteiligung steigt. Bei Europawahlen und natürlich auch bei Europapolitik, haben wir leider generell eine "sparsame" Berichterstattung. Resultat ist eine seit Jahren sinkende Wahlbeteiligung (Zum Nachlesen: Europa-Wahlkampf 2.0, Das Parlament, Nr. 12 / 16.03.2009). Übrigens ist das nicht nur in Deutschland so, sondern auch europaweit.

Diesen Zusammenhang dokumentiert auch eine aktuelle Meinungsumfrage von Eurobarometer (März 2009). Auf die Frage ob in der letzten Zeit in der eigenen Wahrnehmung in den Medien über das Europäische Parlament berichtet wurde, antworteten 60% der Befragten mit Nein. Dennoch haben nur 21% einen "generell schlechten Eindruck" vom Europäischen Parlament; 44% haben einen guten Eindruck, 32% sind indifferent. Der Anteil derjenigen, die wünschen, dass das EP eine wichtigere Rolle einnimmt, liegt bei 48%, diejenigen, die mit dem EP so zufrieden sind, wie es ist, liegt bei 16% - insgesamt also 64% tendenzielle Grundzufriedenheit. Gleichzeitig sprechen sich 53% dafür aus, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments durch die Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt werden sollen.

Ich finde, dass dies doch sehr robuste Werte sind: Wenn rund 64% der Wähler grundsätzlich zufrieden sind, kann man nicht von einer generellen Geringschätzung des Europäischen Parlaments sprechen. Daher meine These, dass diejenigen, die nicht zur Wahl gehen, eigentlich zufrieden sind. Das Hauptproblem, warum die Wahlbeteiligung 2004 relativ gering war, ist aus meiner Perspektive also bei den genannten Aspekten zu sehen. Dass auch ein gewisser Prozentsatz an Wählern aus Unzufriedenheit mit europäischer Politik nicht wählen geht, ist mir natürlich auch bewusst.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: auch ich freue mich, wenn mehr als 50% der Wähler abstimmen. Oder sogar 60% - manchmal träume ich sogar von 80%! Allein schon, weil ich den aktiven Bürger möchte, der sein Recht - und auch seine Wahlpflicht wahrnimmt. Dass Sie zumindest zu den politisch sensibilisierten Menschen in Deutschland gehören, die sich intensiv Gedanken machen, zeigt Ihre engagierte Anfrage. Ich hoffe, ich konnte Sie zumindest überzeugen, dass ich mich nicht über Nichtwähler "lustig" mache. Das steht mir nämlich fern - dazu ist für mich (Europa)-Poltik ein viel zu ernstes Gebiet.

Mit besten Grüßen

Dr. Jorgo Chatzimarkakis