Inwieweit hat in der Ukraine in den letzten Jahren das Landgrabbing zu genommen? Droht dort nach dem Krieg, auch wegen der Verschuldung, eine Übernahme durch internationale Konzerne?

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Frage von Reinhard G. •

Inwieweit hat in der Ukraine in den letzten Jahren das Landgrabbing zu genommen? Droht dort nach dem Krieg, auch wegen der Verschuldung, eine Übernahme durch internationale Konzerne?

Sehr geehrte Frau Akbulut,

2015 hat die Linke eine Anfrage an die Bundesregierung zum Landgrabbing in der Ukraine gestellt.
bundestag.de/webarchiv/presse/hib/2015_01/357564-357564

Mit freundlichen Grüßen

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Sehr geehrter Herr G.,

Landgrabbing ist längst kein Phänomen des globalen Südens mehr. Diese Akkumulation von Grund und Boden ereignet sich seit Jahren auch im postsozialistischen Raum, in Ostdeutschland genauso wie in der Ukraine. Dabei müssen sich Konzerne nicht einmal den physischen Boden aneignen, es reicht aus, wenn Sie entsprechend große Anteile eines Agrarunternehmens erwerben, um mittelbar Einfluss auf die Agrarstruktur zu nehmen. In der Ukraine spielen hochspezialisierte, häufig vertikal und horizontal integrierte und auf die Produktion und den Export von sogenannten Cash Crops für den Weltmarkt fokussierte landwirtschaftliche Großunternehmen (Agroholdings) eine dominierende Rolle. Laut Angaben des Deutsch-Ukrainischen Agrarpolitischen Dialogs entfallen rund 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Ukraine auf etwa 45.000 landwirtschaftliche Betriebe, darunter Agrarholdings mit zum Teil mehreren 100.000 Hektar Flächenbestand. 2019 sollen allein die zehn größten Agrarunternehmen 7,2 Prozent aller ukrainischen Agrarflächen bewirtschaftet haben. In der Ukraine war über zwei Jahrzehnte ein Moratorium für den Verkauf von Boden in Kraft. Einen landwirtschaftlichen Bodenmarkt hat es deshalb nicht gegeben. Dies hinderte die Konzerne nicht an einer groß angelegten Flächenakquisition. Die Agrarholdings waren für ihre Expansion auf individuelle Pachtverträge oder den Kauf ganzer Betriebe mit bereits bestehenden Verträgen angewiesen. Zum Wachstum der Agrarkonzerne trugen die niedrigen Pachtpreise bei. 2021 wurde dieses Moratorium aufgehoben und für die kommenden Jahre eine weitere Deregulierung des Bodenmarktes angekündigt. Privatpersonen können seitdem landwirtschaftliche Flächen im Umfang von höchstens 100 Hektar kaufen und verkaufen. Agrarholdings sollen ab 2024 bis zu 10.000 Hektar erwerben dürfen. Dadurch werden sie perspektivisch von bisherigen Pächtern zu Eigentümern der Flächen. Hinzu könnte die Privatisierung von Flächen und Agrarunternehmen kommen, die bisher dem Staat oder Kommunen gehörten. Für 2024 ist eine Volksabstimmung über den direkten Erwerb von Boden durch Ausländer angesetzt. Bis dahin ist ein Kauf von Boden durch Ausländer ausgeschlossen. Allerdings sind ukrainische Agrarholdings schon seit Jahren ein attraktives Betätigungsfeld für internationale landwirtschaftsfremde Investoren. So gehören z.B. eine Schweizer Privatbank, ein dänischer Investor und eine US-amerikanische Investmentgesellschaft zu den Anteilseignern der Kernel Holding. Dieses Unternehmen bewirtschaftet über 500.000 Hektar Land und ist der größte Getreideerzeuger und Getreideexporteur der Ukraine. An Spekulationen über die zukünftige Entwicklung möchten wir uns nicht beteiligen. Wir sehen aber durchaus die Gefahr, dass sich die Konzentrationsprozesse in der ukrainischen Landwirtschaft beschleunigen werden. Neben der erwähnten Liberalisierung des Bodenmarktes und dem allgemeinen Produktivitätsvorteil von Großbetrieben sowie dem schon vor dem Krieg bestehenden schlechten Zugang zu Finanzmärkten für Kleinbauern dürften die Auswirkungen des Krieges großen Einfluss auf die Agrarstruktur haben. Der Preisverfall auf den inländischen Agrarmärkten, Arbeitskräftemangel durch Flucht, Vertreibung und Rekrutierung für die Armee, Inflation, Mangel an Dünger, Saatgut, Kraftstoff und anderen Betriebsmitteln und nicht zuletzt die direkten Kriegseinwirkungen werden wohl besonders die mittleren und kleinen Betriebe, aber auch Großbetriebe treffen und zu vermehrten Betriebsaufgaben bzw. -übernahmen führen. Von dieser Entwicklung dürften insbesondere die etablierten Agrarkonzerne und Holdings sowie deren internationale Geldgeber profitieren.

Mit freundlichen Grüßen

Gökay Akbulut

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