Frage an Heike Hänsel bezüglich Arbeit und Beschäftigung

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Heike Hänsel
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Frage von Sofia K. •

Frage an Heike Hänsel von Sofia K. bezüglich Arbeit und Beschäftigung

Sehr geehrte Frau Hänsel,

ich würde gerne wissen, inwieweit die EU-Sozialcharta und das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) Rechts- und/oder Gesetzgültigkeit haben.
Sollten sie Gültigkeit haben, wäre es interessant zu wissen wie sich der Begriff "angemessener Lebenstandard" ( EU-Sozialcharta Artikel 4 Satz 1) in Zahlen ausdrücken lässt.
Ein Arbeitnehmer der sein/en Gehalt/Lohn mit Kinderzuschlag oder Hartz 4 (einschließlich sämtlicher Menschenunwürdigen Sanktionen und Schikanen )aufstocken muss, wird wohl kaum angemessen bezahlt.

Ich danke Ihnen schon im voraus für eine Antwort.

Mit freundlichen Grüßen

Sofia Kenigkschaous

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DIE LINKE

Sehr geehrte Frau Kenigkschaous,

Haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage und bitte entschuldigen Sie die späte Antwort. Ihre Fragen nach der „Gültigkeit“ der Europäischen Sozialcharta (ESC) und dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) und der möglichen Ableitung eines Rechtsanspruchs auf einen „angemessenen Lebensstandard“ sind Europa- und sozialrechtlich komplex, so dass eine gründliche Prüfung notwendig war. Dies gilt umso mehr, als es sich bei der ESC und dem EFA um zwei völkerrechtliche Verträge aus dem Rechtsbestand des Europarats (nicht der Europäischen Union (EU)!) handelt, die im Unionsrecht unterschiedlich aufgegriffen werden. Daher habe ich Ihre Fragen unten separat beantwortet.

Mit freundlichen Grüßen
Heike Hänsel

1. Hat die ESC in Deutschland Rechtsgültigkeit?
Die Europäische Sozialcharta (ESC) des Europarates wurde 1961 aufgesetzt und ist seit 1965 in Kraft. Sie enthält einen breiten Katalog sozialer und wirtschaftlicher Grundrechte. Seit Inkrafttreten wurde sie mit drei Zusatzprotokollen sowie 1996 mit der Revidierten Sozialcharta um weitere Rechte ergänzt. Die in der ESC verankerten soziale Grundrechte sind für die Vertragsstaaten völkerrechtlich verbindlich. Deutschland hat die Revidierte Sozialcharta 1996 unterzeichnet, aber bis heute nicht ratifiziert. Mit der Ratifizierung „alten Charta“ von 1965 hat sich Deutschland allerdings zur Gewährleistung der darin enthaltenen Rechte verpflichtet. Die („alte“) ESC hat somit auch in Deutschland Rechtsgültigkeit („innerstaatliche Geltung“) und verpflichtet die Bundesregierungen, sie in Gesetzgebung und Politik umzusetzen ( http://conventions.coe.int/treaty/ger/treaties/html/163.htm
weitere Informationen: http://www.coe.int/T/DGHL/Monitoring/SocialCharter/ ).

Die Einhaltung der Sozialcharta wird vom Europarat überwacht: Das Ministerkomitee des Europarates prüft, ob die Vertragsstaaten die ESC tatsächlich umsetzen und kann politische Empfehlungen an diejenigen Staaten abgeben, die die vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllen bzw. verletzen. Eine rechtliche Pflicht zur Umsetzung dieser Empfehlungen besteht aber nicht ( http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/socialcharter/Presentation/FAQ_en.asp ).
Der größte „Schwachpunkt“ der ESC liegt somit in der mangelnden Durchsetzbarkeit: Bei Verletzungen der ESC durch die Vertragsstaaten bzw. der Nichtumsetzung der darin zugesicherten Grundrechte gibt es weder die Möglichkeit formaler Staatsklagen noch das Recht Betroffener auf individuelle Klagen (wie etwa im Fall der EMRK beim EuGH). Aus den Kontrollen und Prüfungen durch den Europarat folgen auch - abgesehen von der Prangerwirkung - keine politischen Sanktionen.

2. Wie lässt sich der in der Charta verankerte Begriff des „angemessenen Lebensstandards“ nach Artikel 4 Absatz 1 ESC in Zahlen ausdrücken?
Artikel 4 Absatz 1 der ESC verpflichtet die Vertragsstaaten, „das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.“ Im Vertragstext der ESC selbst werden keine Zahlenangaben gemacht. Das Komitee der Sozialen Rechte des Europarates (EKSR) legte die Untergrenze für einen „angemessenen Lohn“ bei 60% des nationalen Netto-Durchschnittslohns fest. Für Deutschland läge nach EKSR-Definition (auf Grundlage von Daten von 2007) die Untergrenze bei mindestens 1.300 Euro / Monat.
(Siehe hierzu G. Nassibi 2010, Das Verbot sittenwidriger Löhne und die Europäische Sozialcharta. In: Kritische Justiz 43 (2), 194-205, hier: S. 201ff)

Deutschland ist in den letzten Jahren wiederholt für die die unzureichende Umsetzung der ESC in Arbeitsrecht und Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik kritisiert worden: 2010 kritisierte der Europarat unter anderem, dass aufgrund unzureichender Mindestlohnregelungen (v.a. dem Fehlen eines allgemeinverbindlichen gesetzlichen Mindestlohns) die Gehälter im Niedriglohnbereich zu gering sind, um Arbeitnehmer/innen einen angemessenen Lebensstandard zu sichern (European Social Charta 2010, European Committee of Social Rights. Conclusions XIX-3 (Germany) (December 2010). http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/socialcharter/Conclusions/State/GermanyXIX3_en.pdf

3. Zur Position der LINKEN
DIE LINKE kritisiert, dass Deutschland die in der ESC verankerten Grundrechte nicht vertragsgemäß umsetzt. Zudem will sie die politische Bedeutung der ESC stärken. Zum 50-jährigen Jubiläum der ESC brachte DIE LINKE in der 17. Wahlperiode im Oktober 2011 den Antrag „Die Europäische Sozialcharta unverzüglich umsetzen“ in den Bundestag ein ( http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/074/1707484.pdf ). Darin fordert sie u.a.:

- Dass die Bundesregierung die Revidierte ESC unverzüglich ratifiziert und die Verpflichtungen aus der „alten ESC“ endlich uneingeschränkt einlöst:
- Dass das Grundrecht auf angemessene Entlohnung (Art. 4 Abs. 1 ESC) durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 10 Euro brutto pro Stunde realisiert wird;
- Dass gemäß Artikel 13 Absatz 1 ESC (Recht auf ausreichende Sozialleistungen) die Einführung einer sanktionsfreien, bedarfsdeckenden Mindestsicherung umgesetzt wird; ein erster Schritt hierzu ist die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze auf 500 Euro / Person sowie die Abschaffung der Sanktionen der „Hartz-Gesetze“.

Der Antrag der LINKEN wurde mit Stimmen aller anderen Parteien - der CDU/CSU/FDP-Regierung wie auch der damaligen Opposition aus SPD und Grünen - abgelehnt.
Darüber hinaus hat DIE LINKE - u.a. in ihrem Programm zur Bundestagswahl 2013 - klare Forderungen erhoben, um allen Bürger/innen einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Im Wahlprogramm heißt es hierzu u.a.:

- Zu Mindestlöhnen: „Die Entlohnung darf einen Stundenlohn von zehn Euro und monatlich einen Bruttolohn von monatlich mindestens 1.500 Euro nicht unterschreiten. Auch hier sollte der Mindestlohn bis zum Ende der Wahlperiode auf mindestens 12 Euro steigen.“
- Zur Mindestsicherung / menschenwürdigen Sozialleistungen: „(…) Hartz IV muss weg! Stattdessen brauchen wir eine bedarfsgerechte und sanktionsfreie Mindestsicherung, die Betroffene gegen Armut absichert und gesellschaftliche Teilhabe garantiert. Wir wollen öffentliche soziale Dienstleistungen und Infrastruktur ausbauen. (…) Kurzfristig müssen die Hartz-IV-Regelsätze auf 500 Euro erhöht und die Sanktionen und so genannte "Ein-Euro-Jobs" abgeschafft werden. Wir wollen ein Konzept einbringen, in dem keine Mindestsicherung mehr unter 1.050 Euro liegt. Gegebenenfalls muss diese bei hohen Mieten durch Wohngeld ergänzt werden können. Die Mindestsicherung sichert sowohl erwerbsfähige als auch nicht erwerbsfähige Erwachsene, z.B. Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner.“( Programm für die Bundestagswahl 2013: Kapitel zu sozialer Gerechtigkeit / Sozialleistungen und Mindestsicherung: http://
www.die-linke.de/wahlen/archiv/archiv-fruehere-wahlprogramme/wahlprogramm-2013/wahlprogramm-2013/i-solidaritaet-neu-erfinden-gute-arbeit-und-soziale-gerechtigkeit/soziale-grundrechte-garantieren-statt-schikane-und-armut-durch-hartz-iv/ )

4. Welche Bedeutung hat das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) für die Gewährleistung eines „angemessenen Lebensstandards“?
Auch das EFA gehört zum Vertragsbestand des Europarates. Es wurde 1953 unterzeichnet, trat 1954 in Kraft und wurde bis heute von 18 Staaten ratifiziert. Neben den 13 EU-Staaten, die vor 2004 der EU angehörten (mit Ausnahme Finnlands und Österreichs), sind die heutigen EU-Mitglieder Estland und Malta sowie ferner Island, Norwegen und die Türkei EFA-Vertragsstaaten. Kern des EFA ist die wechselseitige Verpflichtung der Vertragsstaaten, ihren jeweiligen Staatsangehörigen Fürsorgeleistungen zu den gleichen Voraussetzungen und Bedingungen zu gewähren, wie sie in der jeweils gültigen nationalen Rechtsprechung vorgesehen sind (Artikel 1 EFA).
weitere Informationen: http://www.conventions.coe.int/Treaty/Commun/QueVoulezVous.asp?NT=014A&CM=8&DF=10/03/2014&CL=GER

- Staatsangehörige aus EFA-Vertragsstaaten, die mit anerkanntem Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, haben in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen und Leistungen der Gesundheitsfürsorge.
- Die Bedingungen, die Art und der Umfang von Sozialleistungen richten sich an der nationalen Gesetzgebung des Aufenthaltslandes aus: Ein Staatsbürger aus dem Vertragsland A, der bspw. in Deutschland lebt, erhält gemäß EFA exakt die Leistungen zu den gleichen Bedingungen wie deutsche Staatsbürger/innen (vgl. Artikel 2 EFA).
- Zudem sind die Leistungsansprüche gemäß EFA umfassender, als nach EU-Sekundärrecht, bzw. nach der EU-Rechtsauslegung und -Umsetzung Deutschlands, da das EFA keine Leistungsausschlüsse von Arbeitssuchenden erlaubt, auch wenn diese zuvor noch keine Beschäftigung in Deutschland hatten. [Fußnote 1]

Im Dezember 2011 legte die Schwarz-Gelbe Bundesregierung gegen Teile des EFA Vorbehalt ein, da sie - u.a. aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa - eine „Massenzuwanderung in das deutsche Sozialsystem“ aus den südlichen Staaten des Euroraums / der EU befürchtete: Die damalige CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition argumentierte, dass die „hohen Sozialleistungen“ in Deutschland massenweise (erwerbslose) Migrant/innen aus den ärmeren Ländern mit niedrigeren Sozialstandards „anlocken“ würde. Mit dem Vorbehalt werden auch Arbeitssuchende aus den EFA-Staaten, die zur Jobsuche nach Deutschland einreisen, von den Leistungen nach SGB II (und Teilen der Leistungen nach SGB XII (Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten)) ausgeschlossen.

Die damalige Opposition - DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Grüne - kritisierte den Vorbehalt und forderte seine Rücknahme. Ein entsprechender Antrag der Grünen (unterstützt von SPD und LINKE) wurde im April 2012 von der Koalition niedergestimmt.

Rechtlich ist umstritten, ob der Vorbehalt Deutschlands gegen das EFA rechtlich zulässig ist. Gleichwohl ist er nach wie vor in Kraft. Zahlreiche Betroffene haben sich zwar Leistungen vor den Sozialgerichten eingeklagt (die Rechtsprechung ist allerdings nicht einheitlich), doch vielen Menschen entgehen Leistungen, weil sie von den Klagemöglichkeiten nichts wissen oder den Gang zu den Gerichten scheuen.
(u.a. http://www.neues-deutschland.de/artikel/814213.nur-fuer-deutsche.html ; http://www.taz.de/!90451/ )

Fußnote:

[1] Anders als im EU-Recht haben EFA-Bürger/innen auch dann Anspruch auf Leistungen nach SGB II, wenn sie zur Arbeitssuche nach Deutschland eingereist sind. Nach EU-Recht - wichtig sind hier v.a. die Unionsbürgerrichtlinie (auch: Freizügigkeitsrichtlinie) RL 2004/38/EG) und die VO 883/2004 - die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die die Zugangsbedingungen von EU-Bürgern zu den Sozialsystemen der Aufnahmeländer regelt - ist das Aufnahmeland in den ersten drei Monaten gar nicht zur Zahlung von Sozialleistungen nach SGB II verpflichtet; Arbeitssuchende müssen Sozialleistungen über ihr Herkunftsland beziehen. Zudem ist Arbeitssuchenden EU-Ausländern, die zuvor noch keine Beschäftigung in Deutschland hatten, der Bezug von Sozialleistungen nach SGB II Arbeitsuchenden, verwehrt (u.a. Artikel 24 Absatz 2 RL 2004/38/EG). Diese Einschränkung macht das EFA nicht. Auf die komplexe, uneindeut
ige und EU- sowie sozialrechtlich umstrittenen EU-Rechtslage und auf die EU-Rechtsauslegung und -Umsetzung durch Deutschland kann hier nicht näher eingegangen werden. Dazu siehe u.a.
Dorothee Frings 2012, Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger unter dem Einfluss der VO (EG) Nr. 883/2004. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 32 (9), 317-356; Johannes Rascka 2013, Freizügigkeit von Unionsbürgern und Zugang zu sozialen Leistungen. In: Zeitschrift für Europarecht 10 (1), 116-127. http://www.europarecht.nomos.de/archiv/2013/heft-1/ , Elke Tießler-Marenda 2012, Sozialrechtliche Ansprüche von Ausländer/innen. In: Sozialrecht aktuell - Zeitschrift für Sozialberatung, 16 (2), 41-84.