Frage an Kerstin Andreae bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Kerstin Andreae
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Günter B. •

Frage an Kerstin Andreae von Günter B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Andreae !

Zur folgenden Problematik einige Fragen an Sie, mit der Bitte um Antwort.

Zunächst die Fakten:

Kosten der Zuwanderung pro Jahr: mindestens jährlich 16 Milliarden Euro (Bertelsmann-Stiftung), eine sehr konservative Schätzung, andere wie der renommierte Prof. Raffelhüschen (Freiburg) gehen von bis zu einer Billion Euro aus! Darin enthalten sind u.a. die Kosten für Kriminalität und auch die Kosten, die die Krankenversicherungsabkommen mit der Türkei, Marokko, Tunesien und anderen Herkunftsländer aus den 60er-Jahren mit sich bringen. Diese Abkommen besagen, dass die deutschen Krankenkassen auch für die Kosten der Familienversorgung in den Herkunftsländern aufkommen, und zwar auch für Eltern, Geschwister etc. Und dies sogar auch im Falle von Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfebezug der hier lebenden Ausländer aus diesen Ländern. Dies stellt eine Diskriminierung der deutschen Bevölkerung dar, bei denen zur Familie lediglich Kinder und Ehepartner zählen, und bringt seit vielen Jahrzehnten eine milliardenschwere Belastung mit sich, die von den Beitragszahlern in Deutschland aufgebracht wird.
Wenn man dabei noch berücksichtigt, dass viele europäisch-christliche, asiatische und amerikanische Zuwanderer mehr in das System einzahlen als entnehmen, wird das ganze fatale Ausmaß der türkisch-arabischen Zuwanderung nach Deutschland deutlich.

Gestatten Sie mir deshalb bitte folgende Fragen:

1. Sehen Sie in der zunehmenden Ausbreitung des Islam in unserer Gesellschaft eine Gefahr oder eher eine wünschenswerte kulturelle Bereicherung?

2. Halten sie den Islam für kompatibel mit dem Grundgesetz?

3. Befürworten Sie einen EU-Beitritt der Türkei?

4. Ist Ihnen bekannt, dass der Islam eine politische Religion ist, deren Lehren alle Bereiche des menschlichen Lebens betreffen und nicht, wie im Falle anderer Religionen, in erster Linie den Glauben?

Für Ihre geschätzte Antwort danke ich im Voraus,

Mit freundlichen Grüßen

Günter Benz

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Benz,

zunächst will ich eins klar stellen: Die Art, wie Sie vom „fatalen Ausmaß der türkisch-arabischen Zuwanderung“ sprechen, halte ich für sehr bedenklich. Ihre Ausführungen und Fragen scheinen darauf abzuzielen, eine ganze Gruppe von Menschen aufgrund ihres spezifischen Migrationshintergrundes und ihrer Religionszugehörigkeit als gefährlich für unsere Gesellschaft zu diffamieren. Dies lehne ich entschieden ab.

Nun zum Inhalt Ihrer Mail: Die Zuwanderung nach Deutschland wurde von der Bundesregierung aktiv vorangetrieben, um den Arbeitskräftemangel in Zeiten des Wirtschaftswunders auszugleichen. Ohne die zugewanderten Arbeitskräfte hätte die deutsche Wirtschaft nicht so wachsen können, wie sie damals gewachsen ist. Und auch der demografische Wandel würde in Deutschland heute und vor allem in Zukunft wesentlich dramatischere Folgen haben, wenn es keine Zuwanderung gegeben hätte. Das gilt insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme.

Die Bundesregierung hat es aber jahrzehntelang versäumt, die Zugewanderten genauso aktiv in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Die Folgen sind gravierend: Noch immer haben es Kinder mit Migrationshintergrund z.B. besonders schwer im deutschen Bildungssystem. Die Folgekosten dieser Versäumnisse kommen uns, aber vor allem die Migranten selbst, teuer zu stehen. Die Integration nun endlich voranzubringen ist die zentrale Herausforderung und nicht die Frage, welche internationalen Abkommen es zwischen Krankenkassen gibt.

Zu Ihren Fragen im Einzelnen:

1. Dass viele muslimische Familien mit Migrationshintergrund mehr Kinder bekommen und diese dann auch dem muslimischen Glauben angehören, finde ich keinesfalls problematisch, falls Sie das mit „Ausbreitung des Islam“ meinen. Europas lange Geschichte wurde mitgeprägt durch eine Vielfalt an religiösen und nicht-religiösen Einflüssen. Kulturelle Unterschiede können immer eine Bereicherung sein, wenn man sich für sein Gegenüber interessiert und sich über gemeinsame Grundwerte einig ist. Diese Grundwerte sind in unserer Verfassung festgeschrieben. Die überwältigende Mehrheit der Muslime in Deutschland steht hinter dem Grundgesetz. Die europäischen Muslime sind ein Schlüssel zur Überwindung der von Extremisten auf beiden Seiten geschürten Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen.

2. Der Islam ist eine Religion und jede und jeder hat nach unserem Grundgesetz das Recht (Artikel 4), sich zu der Religion zu bekennen, an die er oder sie glaubt. Der Staat ist in der Pflicht, das hohe Gut der Religionsfreiheit zu schützen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist der Staat außerdem zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet. Das bedeutet, dass er keine Religionsgemeinschaft privilegieren oder diskriminieren darf. Das gilt für den Islam wie für den Buddhismus oder das Christentum.

3. Wir Grünen begrüßen und unterstützen die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei seit Jahren. Denn wer eine moderne und demokratische Türkei haben möchte, in der Bürgerrechte, Rechte der Frauen, ethnische Minderheiten ebenso wie religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften respektiert werden, muss für ehrliche und faire Verhandlungen mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft eintreten. Wir betrachten die EU als ein politisches Projekt für Frieden und Wohlstand auf der Grundlage gemeinsamer Werte. Unserer Meinung nach kann die Integration der Türkei diese Idee nachhaltig unterstützen, denn ein EU-Mitglied Türkei kann ein stabilisierender Anker in der Region sein, der beweist, dass das EU-Modell von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch eine Perspektive für Länder mit muslimischer Bevölkerung ist. Ein EU-Mitglied Türkei kann zwischen der arabisch-islamischen und der westlichen Staatengemeinschaft vermitteln sowie als Energiebrücke zwischen den Weltmärkten, insbesondere Europas und der Kaspischen Region wirken und die Lage im Nahen Osten stabilisieren.

4. Ihre Behauptung, der Islam sei eine politische Religion, die in alle Lebensbereiche einwirkt, kann ich so nicht teilen. Es ist mir durchaus bekannt, dass es fundamentalistische Kreise gibt, die die Schriften des Islam als politische Handlungsanweisungen verstehen. Die überwältigende Mehrheit der Muslime tut dies jedoch nicht. Die Schriften des Islam, z.B. der Koran, werden - wie auch die Bibel - von Gläubigen unterschiedlich interpretiert. „Den Islam“ gibt es strenggenommen genauso wenig wie „das Christentum“. Eine Glaubensgemeinschaft, die weltweit mehr als 1 Milliarde Menschen umfasst, ist vielfältig und regional ganz unterschiedlich ausgeprägt. Die Türkei beispielsweise ist ein säkulär konstituierter Staat mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung. Wären alle mehrheitlich islamischen Länder in allen Lebensbereichen durch den muslimischen Glauben geprägt, würde ein Staat wie die heutige Türkei gar nicht existieren.

Mit freundlichen Grüßen

Kerstin Andreae