Frage an Thomas Oppermann bezüglich Soziale Sicherung

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Thomas Oppermann
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Frage an Thomas Oppermann von Robert B. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Oppermann,

Sie schreiben in diesem Forum öfters darüber, dass Sie sich dem Kampf um soziale Gerechtigkeit verschrieben haben.

Es ist gerade 7 Jahre her als Gerhard Schröder vor einem neoliberalen Publikum in Davos das SPD-Programm zur Umwandlung Deutschlands in ein Billiglohnland mit Hilfe der Agenda 2010 vorstellte. Zitat Schröder. „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“

Sie stehen bekanntlich auch heute zu Agenda 2010 und vertreten öffentlich die Meinung, Deutschland gehe es aufgrund der Agenda 2010 gut. Der Beifall von den Profiteuren und aus der neoliberalen Ecke der Gesellschaft ist Ihnen dafür gewiss; wie ist es aber mit den Millionen von Beschäftigten in der Leiharbeit, im Niedriglohnsektor und Hartz-IV-Aufstockern?

Definieren Sie daher bitte, was oder wen Sie unter dem Begriff Deutschland verstehen, wenn Sie über die angeblichen Agenda-Erfolge in Deutschland sprechen. Zeigen Sie bitte mit einigen Beispielen auf, wie die Agenda 2010 zur sozialen Gerechtigkeit beigetragen hat.

Mit freundliche Grüßen

Robert Berg

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Berg,

erinnern wir uns, wie die Situation vor einem Jahrzehnt war: Leitartikel und Talkshows zeichneten das Bild von Deutschland als „krankem Mann von Europa“, der unter Überalterung, verkrusteten Strukturen und zu hohen Lohnnebenkosten litt. Die Symptome waren alarmierend: Nach jedem Konjunktureinbruch seit den Öl-Krisen von 1973/74 und 1981/82 war eine höhere Sockelarbeitslosigkeit zurückgeblieben, im Winter 2005 summierte sich die Arbeitslosenquote auf ein Rekordhoch von mehr als 5 Millionen. Unsere überschuldeten Sozialversicherungssysteme waren an ihren Belastungsgrenzen angekommen. Abstiegsangst griff auch in der gutsituierten Mittelschicht unter Akademikern um sich.

Der Grundgedanke unseres Sozialstaats musste sich deshalb ändern. Ein Sozialstaat, der sich, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, mit einem unübersichtlichen Geflecht aus Fördertöpfen um seine Bürger kümmert, stößt an seine Grenzen. Solidarität in Notlagen ist ein zentrales Gebot und der Sozialstaat ist eine wichtige Errungenschaft. Aber es darf keinen Zustand der sorglosen Daueralimentierung geben, der jeden Wunsch nach Eigeninitiative verkümmern lässt.

Der Leitgedanke der Agenda 2010 war deshalb zurecht der vorsorgende Sozialstaat: Mit klugen Investitionen in Bildung, mit einer aktiven Arbeitsmarkt- und Vermittlungspolitik müssen wir dafür sorgen, dass es gar nicht so weit kommt, dass Menschen in die zermürbende Mühle der Langzeitarbeitslosigkeit fallen, die jedes Selbstwertgefühl ankratzt. Die Pflicht der Politik ist es, faire Rahmenbedingungen zu setzen und für Chancengleichheit zu sorgen. Jeder Bürger soll die Gelegenheit bekommen, sein Potenzial zu entfalten.

Weil sie diese Herausforderung erkannt hat, baute die Rot-Grüne Bundesregierung von 2003 – 2005 unser Sozialsystem in einem Kraftakt um. Ein solcher Modernisierungsschub wie die Agenda 2010 geht nie ohne Spannungen aus. Es gab leidenschaftliche Diskussionen in meiner Partei, die schließlich auch im vorzeitigen Ende der Koalition kulminierten. Dennoch war dieses Programm nach langem Reformstau aus meiner Sicht notwendig. Ähnliche Strukturreformen sind auch in anderen westlichen Staaten notwendig.

Die Agenda 2010 wird fast immer auf Hartz IV reduziert. Ihr Ansatz war aber viel breiter: Es war überfällig, Verschiebebahnhöfe zwischen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu beenden und die Arbeitsvermittlung fit zu machen für ihre eigentliche Aufgabe. Als ehemaliger Bildungsminister bedauere ich es, dass vor allem ein Punkt in den Debatten um Hartz IV zu sehr an den Rand gedrängt wurde: Zu Schröders Agenda-Konzept gehörte es auch, den Ausbau von Ganztagsschulen mit 4 Mrd. € zu fördern und die Ausgaben in Bildung um 25 % zu erhöhen.

Im Rückblick sind sich die Ökonomen einig: Den Strukturreformen der Agenda 2010 verdanken wir es, dass wir nach einer Zeit von Stagnation oder gar Rezession in den Vorkrisenjahren 2006 und 2007 einen Aufschwung mit robusten Wachstumsraten von 2,9 bzw. 2,5 % erlebten. Von der Nachfrage wachsender Schwellenländer konnte Deutschlands Exportindustrie sehr stark profitieren. Die Agenda 2010 legte auch den Grundstein dafür, dass wir sehr glimpflich durch die Finanzkrise von 2008/2009 kamen und dass Deutschland heute so gut da steht: die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die Steuereinnahmen sind gestiegen und die Sozialversicherungen haben Überschüsse.

Aktuell stehen wir vor neuen Herausforderungen, die Sie ansprechen. Wenn Einkommen aus Arbeit und Vermögen auseinanderdriften, schwindet der soziale Zusammenhalt. Die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, die hohe Zahl der Hartz IV-Aufstocker und Missbrauch bei der Leiharbeit machen deutlich, dass eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem faire Regeln für gute Arbeit nötig sind. Unsichere Beschäftigung und Niedriglöhne wollen wir zurückdrängen, stattdessen die unbefristete und ordentlich bezahlte Arbeit stärken. In einer sozialen Marktwirtschaft können wir es nicht zulassen, dass Einkommen und Vermögen auseinanderdriften. Wir müssen deshalb ein Bündnis zwischen den Starken und den Schwachen schmieden. Dies sind Schwerpunkte unseres Bundestagswahlprogramms für eine Rot-Grüne Regierung.

Mit freundlichen Grüßen

Thomas Oppermann