Warum schweigt Deutschland und der Bundestag zum laufenden Genozid an ArmenierInnen in Bergkarabach und bleibt trotz der historischen Verantwortung gegenüber dem armenischen Volk völlig untätig?

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Katina Schubert
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Frage von Georg S. •

Warum schweigt Deutschland und der Bundestag zum laufenden Genozid an ArmenierInnen in Bergkarabach und bleibt trotz der historischen Verantwortung gegenüber dem armenischen Volk völlig untätig?

Internationale Experten, u.a. Luis Moreno Ocampo, Ex-Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs; der Jurist Juan Méndez, erster UN-Sonderberater für die Verhinderung des Genozids; die International Association of Genocide Scholars; die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV); die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM); das Lemkin Institute for Genocide Prevention und 50 Genozidwissenschaftler in einem Offenen Brief an die UN bezeichnen die über 8 monatelange Aushungerung von 120.000 ArmenierInnen in Bergkarabach durch Aserbaidschan als „Genozid“.

» Regierungssprecher Hebestreit sagt die Verwendung des Begriffs „Genozid“ sei „Propaganda“
» der Bundestag schweigt
» Annalena Baerbock und Kanzler Scholz schweigen
» DE blieb einem Diplomatenbesuch in Armenien am 28.07. fern

Wie ist dieses Verhalten DE mit der Armenien-Resolution und der Verantwortung die sich aus der deutschen Mitschuld am Genozid an den Armeniern 1915 ergibt vereinbar? Wann handeln Sie endlich?

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Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Fragesteller. danke für Ihre Anfrage. Da ich selbst auf dem Gebiet keine Expertin bin, habe ich mir Hilfe von Expert*innen meiner Partei geholt. 

Die Lage vor Ort in Bergkarabach ist katastrophal. Die Menschen hungern, es fehlt an den einfachsten Medikamenten. Außenministerin Baerbock hat sich zwar vor einigen Tagen dazu geäußert und an die aserbaidschanische Regierung appelliert, die Hilfsgüter durchzulassen. Aber es darf nicht bei diesem Appell bleiben, sondern es ist umgehend konsequentes Handeln nötig.

Der Hintergrund für das lange Schweigen der Bundesregierung sind maßgeblich übergeordnete strategische Erwägungen, die Interessen der Bevölkerung von Arzach werden diesen untergeordnet. Die Bundesregierung hat in den letzten zwei Jahren Aserbaidschan als alternativen Lieferanten für Energieressourcen entdeckt und agiert vor diesem Hintergrund äußert vorsichtig gegenüber den Interessen des aserbaidschanischen Regimes. Neben der Energiedimension gibt es weitere: Die Türkei ist eine enge Bündnispartnerin Aserbaidschans. Vor dem Hintergrund der zugespitzten internationalen geopolitischen Konkurrenz gilt es, die Türkei im westlichen Bündnis zu halten. Deswegen vermeidet die Bundesregierung es, die Befindlichkeiten des türkischen Regimes allzu offen zu verletzen. Die Türkei selbst sieht sich als enge Verbündete Aserbaidschans.

Hinzu kommt, dass seit dem Ende des Karabach-Krieges Russland als de facto Schutzmacht Armeniens wahrgenommen wurde, so ist Armenien zum Beispiel Mitglied im OVKS. Diese Wahrnehmung war schon immer unterkomplex, dies gilt auch vor dem Hintergrund des Demokratisierungsprozesses in Armenien seit 2018. Spätestens seit dem aserbaidschanischen Angriff auf Karabach im Herbst 2020 und den im Anschluss von Russland vermittelten Waffenstillstand, der die Ergebnisse der aserbaidschanischen Offensive kodifiziert, ist fraglich, ob Russland tatsächlich „Schutzmacht Armeniens“ zu bezeichnen ist. Russland verfehlt seine Zusagen, den Latschin-Korridor nach Karabach angemessen zu sichern. Dies ermöglicht Aserbaidschan überhaupt erst die Hungerblockade. Durch die relative Distanz westlicher Staaten zu Armenien und damit den Armenier_innen in Arzach/Karabach, geraten die Menschen dort zwischen die Mühlen der internationalen Geopolitik.

Die Interessenlage der Bundesregierung führt auch dazu, dass sie sich zwar für eine friedliche Beilegung/Regulierung des Konfliktes ausspricht, aber davor zurückschreckt Hungerblockaden als Instrumente eines Genozides zu bezeichnen, auch wissenschaftliche Analysen oder juristische Bewertungen hier zu anderen Schlüssen kommen.

Die Bundesregierung nimmt für sich offiziell in Anspruch eine wertebasierte Außenpolitik zu verfolgen, verfolgt jedoch nach Interessenlage Doppelstandards. Als DIE LINKE haben wir diese ambivalente Haltung der Regierung immer kritisiert und dazu aufgerufen, sich für Frieden in der Region stark zu machen und Menschenrechtsverletzungen und Kriegshandlungen scharf zu kritisieren. Gregor Gysi hatte einst in einer Rede im Bundestag – mit Bezug auf die Armenien-Resolution – deutlich gesagt, dass man sich in diesem Konflikt nicht neutral verhalten kann, sondern die Rolle Aserbaidschans und der Türkei klar verurteilen muss[1]. Im Bundestag und im Europaparlament haben unsere Abgeordneten klar gemacht, dass die EU und die Bundesregierung hier nicht wegschauen dürfen[2].

Und gerade jetzt, wo die Lage sich so gravierend zuspitzt, ist es mehr als zynisch, wenn geopolitische Interessen schwerer gewichtet werden, als die Interessen von Menschen, die vor allem eins wollen: überleben. Jetzt muss dringend gehandelt und deutlich mehr Druck auf die Regierung in Aserbaidschan ausgeübt werden.

[1] https://www.linksfraktion.de/parlament/reden/detail/gregor-gysi-die-bundesregierung-muss-im-konflikt-um-berg-karabach-farbe-bekennen/

[2] https://www.martina-michels.de/presseerklaerungen/eu-ignoriert-humanitaere-katastrophe-in-berg-karabach/

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