Frage an Viola von Cramon-Taubadel bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

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Viola von Cramon-Taubadel
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Kanstansin K. •

Frage an Viola von Cramon-Taubadel von Kanstansin K. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrte Frau Cramon-Taubadel,

ich habe sowohl deutsche als auch estländische und weißrussische Wurzeln. Meine Mutter ist Deutsche, dennoch habe ich aufgrund meines Namen mit Vorbehalte zu kämpfen. Sie können also annehmen, dass ich Ausländerfeindlichkeit strikt ablehne.

Es ist aber so, dass ich gestern ein Interview mit Ihnen im Radio hörte. Sie meinten, 32.000 Flüchtlinge aus Nordafrika müssten verkraftbar sein und diese solle man auf die gesamte EU verteilen. Ist es nicht so, dass Italien letztens Jahr viel weniger Flüchtlinge aufnahm als Deutschland? Warum soll dann Deutschland einspringen?

Weiter frage ich Sie, was Sie unter Flüchtlinge verstehen? Sind die Flüchtlinge aus Tunesien keine Wirtschaftsflüchtlinge? Meines Erachtens sollte man das Geld lieber dafür ausgeben, um vor Ort für mehrere Menschen geeignete Strukturen zu schaffen und nicht für wenige junge und vitale Menschen, die nach Europa wollen? Ich sehe nicht warum es gerecht sein soll, Wirtschaftsflüchlinge aufzunehmen, aber viele Menschen in Schwarzafrika usw. hungern zu lassen. Wie passt das Ihrer Meinung nach zusammen?

Und zu guter letzt: Sie meinten mit Blick auf die demografische Entwicklung müsse die EU künftig eine andere Einwanderungspolitik machen. Ich sehe nicht wo diese Entwicklung statt findet? Ich sehe nur geschönte Arbeitslosenstatistiken und prekäre Jobs. Verstehen Sie unter diesen Bedinungen, dass ich gegen eine zusätliche Einwanderung bin? Sollte man nicht mehr Menschen vor Ort helfen anstatt Wirtschaftsflüchtligen zu helfen?

Mit freundlichen Grüßen

Kanstansin Kavalenka

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Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geeherte Frau Kavalenka,

vielen Dank für Ihre Fragen, die Sie in Bezug auf mein dRadio-Interview vom 26.April gestellt haben. Dabei ging es mir im Interview primär darum, dass mir die Forderungen zur Schengen-Änderung als reines Ablenkungsmanöver erscheinen. Sarkozy und Berlusconi aber auch Innenminister Friedrich sprechen lieber über den Ausbau von Grenzen in der EU und an den Außengrenzen, anstatt konkrete Maßnahmen zur Unterstützung der Länder im Umbruch und für Menschen in Not zu ergreifen.

Auf die Flüchtlinge im Zusammenhang mit den revolutionären Umbrüchen in den Maghreb-Staaten reagieren Deutschland und die EU bisher mit Hilflosigkeit und Abwehrhaltung. Dabei hat die italienische Regierung das Schengen-Abkommen für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert, wie sie auch Anfang März in Lampedusa bewusst dramatische Szenen inszenierte. Für einen besseren Flüchtlingsschutz ist Italien aber nicht allein verantwortlich. Die Aufnahme von schutzbedürftigen Menschen ist eine gesamteuropäische Aufgabe und menschenrechtliche Verpflichtung.

Es rächt sich jetzt, dass die Bundesregierung strukturelle Verbesserung im Europäischen Asylsystem systematisch blockiert hat. Die EU-Innenminister konnten sich in der letzten Zeit fast ausschließlich auf Abwehrmaßnahmen verständigen. Dabei gibt es dringenden Änderungsbedarf, um ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem möglich zu machen, dass diesen Namen verdient hat.

Zwei Dinge sind notwendig:
Erstens muss es eine Reform der Dublin II-Verordnung geben, die die Verteilung von Asylsuchenden in Europäischen Staaten regelt. Das derzeitige Zuständigkeitensystem für Asylanträge in der EU ist absolut ungerecht, da es chronisch überlastete Mitgliedstaaten an den Grenzen der EU weiter belastet. Eine größere Solidarität ist eine Voraussetzung dafür, dass zweitens endlich einheitliche Schutzstandards und Verfahrensrechte auf hohem Niveau in ganz Europa durchgesetzt werden – in Deutschland und Frankreich genau so wie in Italien und Griechenland. Diese Verbesserungen dürfen nicht von der Kassenlage abhängig gemacht werden.

Sie haben Recht, dass die rund 23.000 in Italien angekommenen Tunesier zum größten Teil nicht vor gewaltsamer Verfolgung geflohen sind. Dennoch muss für sie eine temporäre Lösung gefunden werden. Schließlich ist die Zahl von 23.000 Menschen im Vergleich zu den 217.000 Flüchtlingen verschwindend gering, die das kleine Land Tunesien laut UNHCR seit Mitte Februar aufgrund der Unruhen in Libyen aufgenommen hat.

Ich stimme Ihnen zu, dass wir die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung von unseren südlichen Nachbarn besser unterstützen müssten. Hier ist die EU gefragt, einen Pakt für Arbeit, Ausbildung und Energie mit den Staaten Nordafrikas zu finden. Teil dessen muss es sein, dass wir den Arbeitsmarkt gezielt für junge Menschen, etwa aus Tunesien, öffnen. Das bedeutet keinen Brain-Drain, wenn man bedenkt, dass das Land 28% Arbeitslosigkeit hat und nur ein Fünftel der Hochschulabsolventen derzeit einen Job hat. Wenn einige von ihnen in der EU einen Job bekommen, unterstützen sie die demokratische Entwicklung des Landes, besonders wenn sie nach einiger Zeit zurückkehren.

Eine offenere Einwanderungspolitik ist meiner Ansicht nach keine Gefährdung für unsere Lebensverhältnisse, sondern längst überfällig. Die Menschen machen sich sowieso auf den Weg, wenn sie in ihrem Land keine Perspektiven besitzen. Die Frage ist, ob wir bereit sind, diese Tatsachen anzuerkennen und über eine Liberalisierung des Visaregimes auch eine Steuerung vornehmen möchten. Arbeitsmigration soll nicht nur für Hochqualifizierte, sondern insgesamt erleichtert werden. Alle einwandernden Arbeitskräfte sollen perspektivisch ihren Aufenthalt einfacher verlängern und verfestigen können. Durch ein Punktesystem kann Zuwanderung so gesteuert werden, dass sie die Folgen des Alterungsprozesses unserer Gesellschaft abmildert.

Das entbindet uns natürlich nicht von der Verantwortung gegen Lohndumping, unsichere Arbeitsverhältnisse und gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen vorzugehen. Wir wollen, dass "gute Arbeit" entsteht und möglichst viele Menschen Zugang zu einem gerecht entlohnten und befriedigenden Arbeitsplatz haben. Vor allem in Branchen mit Zukunft, zum Beispiel im Gesundheits- und Pflegebereich oder im Klimaschutz sollen neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze entstehen.

Mit freundlichen Grüßen
Viola von Cramon

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