Frage an Agnieszka Brugger bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Portrait von Agnieszka Brugger
Agnieszka Brugger
Bündnis 90/Die Grünen
81 %
26 / 32 Fragen beantwortet
Frage von Thomas S. •

Frage an Agnieszka Brugger von Thomas S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Guten Tag Frau Brugger,

Sie haben am 25.03.2021 für eine Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan gestimmt:

https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/agnieszka-brugger/abstimmungen?parliament_period=All&vote=All&page=2

Frage 1:

Was waren/sind Ihre Beweggründe für diese Entscheidung?

US-Präsident Joe Biden will bis spätestens 11.09.2021 das amerikanische Militär aus Afghanistan abziehen. Die Tagesshau meldet am 02.07.2021 dass nach fast 20 Jahren Präsenz in Afghanistan NATO- und US-Truppen ihren größten Militärstützpunkt Bagram geräumt hätten, der vollständige Abzug aus dem Land könnte unmittelbar bevorstehen. Die Bundeswehr hat Afghanistan verlassen und beendete damit ihren bisher längsten Auslandseinsatz.

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-bagram-nato-abzug-101.html

Frage 2:

Wie werten Sie den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan?

Frage 3:

Sehen Sie die Zielsetzung des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan als erfüllt an?

Frage 4:

Sollten Sie diese Zielsetzung als erfüllt ansehen, würden Sie Ihre Sichtweise bitte begründen?

Frage 5:

Sollten Sie die Zielsetzung des Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, als nicht erfüllt ansehen, was hat dieser Einsatz (indem 25 deutsche Soldaten gefallen sind) gebracht?

Zurück bleiben in Afghanistan Menschen, die der Bundeswehr geholfen haben und nun massiv durch Racheakte der Taliban bedroht sind, welche die geräumten Regionen zunehmend beherrschen.

Zitat Tagesschau vom 02.07.2021:

""Wir lassen Euch nicht im Stich" - lautete das Versprechen der Bundesregierung an die afghanischen Helfer der Bundeswehr. Doch daran gibt es Zweifel: Die deutschen Truppen sind zu Hause, die Afghanen noch vor Ort."

https://www.tagesschau.de/inland/ortskraefte-afghanistan-103.html

Frage 5:

Werden Sie sich dafür einsetzen, dass Deutschland die ehemaligen Helfer der Bundeswehr in Sicherheit bringt?

Viele Grüße, Thomas Schüller

Portrait von Agnieszka Brugger
Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Schüller,
vielen Dank für Ihre wichtigen Fragen und auch die Sorge um die Ortskräfte, die Sie völlig zurecht zum Ausdruck bringen. Ich möchte daher zuerst Ihre Frage zu den Ortskräften beantworten, um dann im Detail auf Ihre weiteren Fragen einzugehen. Wobei Ihnen einen Fehler unterlaufen ist, ich habe den Afghanistan-Einsätzen im Bundestag nie zugestimmt. Trotzdem will ich Ihnen gerne meine Sicht auf die Lage in Afghanistan und meine Bewertung der Militäreinsätze darlegen.
Ich teile Ihre Sorgen, wie schlecht die Bundesregierung die afghanischen Ortskräfte behandelt und gerade diejenigen weiterhin im Stich lässt, die über Subunternehmen als Ortskräfte angestellt waren. Als Grüne setzen wir uns seit Jahren hier ein und haben auch immer wieder Druck auf die Bundesregierung ausgeübt. Ich habe den leider trotzdem zutiefst undankbaren und beschämenden Umgang auch mehrfach in scharfen Worten öffentlich kritisiert.
Unabhängig davon, wie man zum Einsatz in Afghanistan steht, wäre das deutsche Engagement vor Ort ohne die Arbeit der Ortskräfte so nicht möglich gewesen. Das verdient unser aller Anerkennung und Respekt. Andere Regierungen stehen längst zu ihrer Verantwortung und beweisen, dass es anders und besser geht. Die Bundesregierung hat dabei versagt, wirklich allen Ortskräften sicher und schnell zu helfen. An dem Chaos hat auch Angela Merkels Machtwort kaum etwas geändert. Zurecht ist der Protest aus der Zivilgesellschaft, der Bundeswehr und den Kirchen an dieser desaströsen deutschen Praxis nach wie vor immens, denn es ist viel zu spät und viel zu wenig passiert. Nach wie vor gibt es zu wenig Unterstützung vor Ort bei der Antragstellung und den vielen Formalitäten, bis hin zur Ausreise und über die fast schon willkürlichen Bestimmungen werden ohnehin nur diejenigen erreicht, die direkt angestellt waren. Damit lässt die Bundesregierung viele der Menschen einfach komplett im Stich, die bei Subunternehmen beschäftigt waren und ebenso das deutsche Engagement unterstützt haben. Dass sich trotzdem etwas getan hat und es – leider zu spät und in der Sache unzureichend – zumindest zu einigen Verbesserungen gekommen ist, ist in den vergangenen Jahren sehr oft allein auf den Druck aus dem Parlament, der Bundeswehr und der Zivilgesellschaft zurückzuführen. Auch Ihnen vielen Dank, dass sie Abgeordnete damit kontaktieren, auch das trägt zu mehr Aufmerksamkeit bei und erzeigt Druck. Bitte machen Sie damit weiter und zeigen so, dass vielen Menschen in unserem Land die Situation der Ortskräfte nicht egal ist und sie die Missstände nicht einfach so hinnehmen.
Im Bundestag setzen wir uns seit Jahren und über Fraktionsgrenzen hinweg für eine großzügige, sichere Praxis im Umgang mit den afghanischen Ortskräften ein. Vor allem das Bundesinnenministerium hat aber blockiert und verschleppt, wo es nur konnte. Dass nun Ortskräfte beim Flug nach Deutschland von der Bundesregierung unterstützt werden sollen, ist ein längst überfälliger Schritt. Trotzdem verzettelt sich die Bundesregierung weiter in Fristen und Vorschriften, und auch die unzureichenden Verbesserungen der letzten Zeit kamen zu spät, sind voller Lücken und dann viel zu oft nicht einmal in die Praxis umgesetzt worden oder für die Betroffenen angesichts der Situation in Afghanistan völlig unrealistisch. Das hat auch eine von unserer Fraktion in Auftrag gegebene Kleine Anfrage (Link zur Anfrage: https://dserver.bundestag.de/btd/19/312/1931268.pdf) ergeben. Deshalb habe ich auch gemeinsam mit meiner Kollegin Luise Amtsberg bereits im Jahr 2019 einen Antrag zur vereinfachten Aufnahme über Gruppenverfahren für afghanische Ortskräfte im Bundestag eingebracht, der von den Koalitionsfraktionen aber abgelehnt wurde. Den Antrag finden Sie hier: https://dserver.bundestag.de/btd/19/092/1909274.pdf. Angesichts der hohen Dringlichkeit haben wir diesen Antrag vor wenigen Wochen erneut in den Bundestag eingebracht. Die Rede meiner Kollegin Luise Amtsberg, die sich ebenfalls intensiv für die großzügige Aufnahme afghanischer Ortskräfte einsetzt und immer wieder zu fraktionsübergreifenden Runden eingeladen hat, um eine gemeinsame Lösung zu suchen, finden Sie hier: https://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/aufnahme-afghanischer-ortskraefte-1.
Zur Verbesserung der Situation müssen nun insbesondere online-basierte Anwendungen mitgedacht und bekanntgemacht werden, da mit dem Abzug der letzten Soldat*innen auch Ansprechpartner*innen für eine Gefährdungsanzeige das Land verlassen haben. Die Einbeziehung externer Dienstleister, wie von der Bundesregierung auch einmal angedacht, beinhaltet das Risiko von Schnittstellenproblematiken, Verzögerungen und Verschiebung politischer Verantwortung. Das muss unbedingt verhindert werden. Zudem müssen Fristen für eine Gefährdungsanzeige auch für diejenigen Ortskräfte verlängert werden, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig waren. Auch muss das Verfahren endlich für Afghan*innen geöffnet werden, die bei Subunternehmen der Bundeswehr angestellt waren.
Ich kann Ihnen versichern, dass die Abstimmung über Auslandseinsätze der Bundeswehr mit zu den schwierigsten Entscheidungen gehört, die ich als Abgeordnete zu treffen habe. Sie betrifft wie kaum eine andere das Gewissen und Herz aller Parlamentarier*innen. Ich möchte meine ablehnende Haltung gegenüber dem Einsatz deshalb auch etwas ausführlicher begründen.
Leider war und ist die Situation in Afghanistan auch nach 20 Jahren des internationalen militärischen und zivilen Engagements hochdramatisch. Die Taliban verüben gerade nach dem Rückzug der internationalen Truppen heftige Anschläge gegen die afghanischen Sicherheitskräfte und die Zivilgesellschaft und befinden sich auf dem Vormarsch. Aber schon zuvor war die Geschichte des militärischen Engagements viel zu oft eine Geschichte der verpassten Chancen. Es ist vor diesem Hintergrund umso mehr ein großes Versäumnis, dass sich die Bundesregierung immer noch einer selbstkritischen und unabhängigen Evaluation verweigert. Es muss zu einer ehrlichen Debatte dazugehören, militärisches, aber auch ziviles Engagement kritisch, unabhängig und umfangreich auszuwerten. Nur so können wir wichtige Lehren für die Zukunft ziehen. In den ersten, friedlicheren Jahren hätte deutlich mehr für den zivilen Wiederaufbau getan werden müssen. Aber auch nach den Präsidentschaftswahlen 2014 wurden der Mut und die große Hoffnung der Menschen massiv enttäuscht, einmal mehr folgten Korruption und Klientelwirtschaft. Und auch die letzten Präsidentschaftswahlen waren überschattet von Betrugsvorwürfen und endeten wieder in einem politischen Patt.
Seit Jahren ist offensichtlich, dass ein militärischer Sieg über die Taliban nicht möglich ist. Die internationalen Militäreinsätze und der langjährige nationale Anti-Terrorkampf der USA haben in bestimmten Situationen zur Gewalteskalation beigetragen oder haben nur begrenzte Erfolge erzielen können, wie beispielsweise bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte. An der Lage haben auch die vielen militärischen Strategiewechsel der Militäreinsätze vom Wiederaufbau zur offensiven Bekämpfung von Aufständischen und zur Ausbildung der Sicherheitskräfte nichts verändert. Für mich ist eine der größten Lehren aus der bitteren Situation in Afghanistan die Frage, wie internationales Engagement (damit meine ich auch die zivilen Projekte und die Entwicklungszusammenarbeit) in Krisengebieten erfolgreich sein kann, wenn die bestehenden politischen Eliten sich in Teilen notwendigen politischen Reformen verweigern und damit die zugrundeliegenden Konfliktursachen verschärfen. Wichtige Lehre ist für mich aber auch, dass die Situation niemals schöngeredet werden darf, es ehrliche und kenntnisreiche Analysen der Situation vor Ort geben muss und wir politische Systeme und Gesellschaften nicht nach unseren Vorstellungen „umbauen“ dürfen, sondern sorgfältiger auf die positiven Kräfte und Einrichtungen schauen müssen, die es bereits gibt und die sich für eine friedlichere und bessere Zukunft einsetzen, um sie besser zu unterstützen. Das habe ich in den vergangenen Jahren von der Bundesregierung nicht nur mit Blick auf den Einsatz in Afghanistan gefordert.
Zugleich gehört zur komplexen Wahrheit in Afghanistan trotzdem hinzu, dass sich nicht alles nur zum Schlechten entwickelt hat, gerade was die allgemeine Bildungssituation, die Rolle der Frauen und Mädchen und die Medienlandschaft betrifft. Ich kenne auch sehr viele zivile Organisationen und Personen, die hier wirklich beeindruckende und nachhaltige Projekte auf den Weg gebracht haben.
Die Möglichkeit einer friedlicheren Zukunft in Afghanistan lag in einer politischen Vereinbarung mit den Taliban und in einem innerafghanischen Versöhnungsprozess, ohne dabei rote Linien zu überschreiten. Auch wenn ich nicht bestreiten will, dass es ein solcher Weg sehr schwierig gewesen wäre und der Erfolg alles andere als sicher war.
Donald Trump hat es mit seiner fatalen Außenpolitik zu verantworten, dass sich diese vielleicht wichtigste Chance auf Frieden in Afghanistan deutlich verringert hat. In seinen Gesprächen mit den Taliban hat er den Abzug der internationalen Truppen ohne echte Gegenleistung versprochen und dabei die afghanische Regierung und die afghanische Zivilgesellschaft von diesem Prozess komplett ausgeschlossen. Von Seiten der Taliban gibt es entsprechend jetzt nur wenig Interesse, sich auf einen echten und inklusiven Friedensprozess einzulassen. Die internationale Gemeinschaft muss nun alles dafür tun, um diese Fehler so weit wie möglich zu korrigieren und nun einen echten Friedensprozess mit der afghanischen Regierung auf den Weg bringen. An diesem müssen auch die Zivilgesellschaft, Frauen und marginalisierte Gruppen beteiligt werden.
Die Bundesregierung hat Anfang des Jahres in dieser sehr unklaren Situation ein Mandat vorgelegt, das mehr Fragen aufgeworfen hat als es beantwortete. Sie sprach in der Begründung von einem „geordneten Abzug“ und suggerierte damit, es würde sich hier um ein letztes Abzugsmandat handeln, obwohl dies zu diesem Zeitpunkt völlig unklar war. Gleichzeitig stand im Mandatstext, dass der Abzug nur „lageabhängig“ erfolgen solle. Es blieb also völlig unklar, welche Konditionen damit verbunden sein könnten und mit welchen Szenarien die Bundesregierung plante. Es blieb auch offen, welche realistischen Erfolgsaussichten nach Auffassung der Bundesregierung überhaupt noch bestanden und was angesichts der bestehenden Bilanz bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte unter den schwierigen politischen Rahmenbedingungen noch erreicht werden kann. Bei einem für die Soldat*innen derart gefährlichen Einsatz braucht es meiner Auffassung nach überzeugende Antworten.
Auch wenn meine Ablehnung dieses Einsatzes nicht als Forderung nach einem Sofortabzug zu verstehen war, habe ich ein verantwortungsloses Weiter-so des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan abgelehnt. Ich konnte einem Einsatz nach 20 Jahren nicht zustimmen, wenn er aus meiner Sicht kaum noch eine Erfolgsperspektive hatte und wesentliche Fragen unbeantwortet geblieben sind. Die internationalen Verpflichtungen für den zivilen Wiederaufbau müssen über einen Abzug hinaus im Rahmen der Möglichkeiten weiterbestehen. Das langfristige Engagement Deutschlands in Afghanistan muss einen Schwerpunkt auf Bildung, Wirtschaftsförderung und Rechtsstaatlichkeit legen. Wir sollten gerade in diesen schwierigen Zeiten die nach wie vor vielen kämpferischen, oft jungen Menschen nicht allein lassen, ihren Anliegen eine Stimme geben und wo es nur geht, auch unsere weitere Unterstützung.
Mit freundlichen Grüßen
Agnieszka Brugger

Was möchten Sie wissen von:
Portrait von Agnieszka Brugger
Agnieszka Brugger
Bündnis 90/Die Grünen