Frage an Alexander Ulrich bezüglich Soziale Sicherung

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Alexander Ulrich
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Frage von Simon R. M. •

Frage an Alexander Ulrich von Simon R. M. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Ulrich,

ich möchte Ihnen ein Zitat aus einem Bericht mitsenden, bezüglich der Kindergeldzahlungen an EU-Ausländer:

"Möglich sei das, weil EU-Ausländern das Geld auch für Kinder zustehe, die gar nicht in Deutschland, sondern noch im Heimatland leben".
Quelle hierfür ist dieser Bericht:

http://www.berliner-zeitung.de/politik/zuwanderung-kindergeld-fuer-rumaenen-wird-nicht-gekappt,10808018,25767376.htm

Finden Sie es richtig, dass Kindergeld bezahlt wird, an Kinder die gar nicht in Deutschland leben?
Kann daraus nicht schnell ein Geschäftsmodell entstehen, zumal das Verdienstniveau in Polen, Rumänien, Bulgarien usw. viel geringer ist?

Trotz neuer Arbeitsplätze in 2014, sollen laut "Denkfabrik der BA" nur 37.000 an Jobsuchende gehen.
Laut diesem Bericht ist eine der Hauptursachen, dass sich die Arbeitgeber lieber mit Personal aus anderen EU-Staaten bedienen:

http://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/roundup-arbeitsmarktforscher-auch-2014-kein-neuer-job-boom_aid_1114446.html

Ist das kein Armutzeichen?

Auch werden Kinder offensichtlich ausgebeutet und verramscht:

http://www.focus.de/politik/ausland/tid-34412/report-verramscht-und-ausgebeutet-kinder-als-ware_aid_1140728.html

Das soll also gut sein? Ich denke, auf so eine Art von Freizügigkeit könnten viele Bundesbürger verzichten.
Warum befragt die Politik nicht das Volk, ob es das "Grundrecht" Freizügigkeit und die Aufnahme weiterer Länder in die EU überhaupt möchte?

Auszug aus einem n-tv-Artikel:

Die Zahl der Arbeitslosen ist der DIW-Studie zufolge bei fast allen Fachkräften höher als die Zahl der offenen Stellen. Lediglich in einigen wenigen Berufen sieht die Untersuchung tatsächlich Hinweise auf eine echte Knappheit in der Arbeitslosenstatistik. Das sind im Einzelnen Vulkaniseure und Elektroinstallateure sowie Ärzte und Krankenschwestern.
Quelle: http://www.n-tv.de/wirtschaft/Die-Maer-vom-Fachkraeftemangel-article3833126.html

Warum galuben Politiker diese Mär?

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Sehr geehrter Herr Meier,

in den letzten Monaten wird die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland in den Medien besonders intensiv diskutiert. Häufig werden die MigrantInnen als Armutseinwanderer stigmatisiert, die lediglich kommen, um unsere Sozialsystem in Anspruch zu nehmen. Polemisch Kampagnen nach dem Motto „Wer betrügt, der fliegt“ haben den migrationsfeindlichen Teil der Diskussion angeheizt und befeuert.

Nach meiner Auffassung ist es allerdings angemessen, die Polemik beiseite zu lassen und sich mehr auf die Fakten zu konzentrieren, die beispielsweise dem IAB-Bericht von 2013 (Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) zu entnehmen sind. Diesen Zahlen folgend handelt es sich bei der Migration aus Rumänien und Bulgarien überwiegend um Arbeits- nicht um Armutsmigration. Die Beschäftigungsquote der EinwandererInnen aus Rumänien und Bulgarien in Deutschland liegt sogar über jener der Einheimischen.

Richtig ist, dass die Zuwanderung aus diesen Ländern nach Deutschland durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit steigen kann. Davon kann Deutschland allerdings auch profitieren. Viele Zuwanderer sind gut qualifiziert und haben bereits eine abgeschlossene Ausbildung. Das heißt, dass die Ausbildungsausgaben für die ausländischen Fachkräfte in der Regel bereits in den Herkunftsländern erbracht wurden. Die günstige Altersstruktur der MigrantInnen bringt wesentliche Gewinne für den Sozialstaat: die größere Zahl von SteuerzahlerInnen trägt zur Stabilisierung der deutschen Haushalte bei.

Das soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in einigen Städten und Stadtteilen zu einer erheblichen Konzentration kommt, die mit sozialen Problemen wie Wohnungsnot einhergeht. Städte wie Dortmund oder Duisburg haben diese Probleme. Sowohl die Zahl der EinwandererInnen aus Rumänien und Bulgarien wie auch die Arbeitslosigkeit unter ihnen ist dort besonders hoch. Aus unserer Sicht ist es aber kein Grund, den Zuzug von BulgarInnen und RumänInnen nach Deutschland grundsätzlich zu begrenzen. Vielmehr muss es darum gehen, die betroffenen Kommunen zu einer sinnvollen Integrationspolitik zu befähigen. Das bedeutet insbesondere, die Kommunen finanziell zu stärken, in dem ihnen ein größerer Teil der öffentlichen Steuereinnahmen zukommt.

Sie sprechen auch den Betrug mit Kindergeld an. Immer wieder tauchen Medienberichte über kinderreiche Familien aus den neuen EU-Ländern auf, die in großem Umfang Kindergeld beziehen und dadurch das deutsche Sozialsystem belasten. Die oben genannte Studie des zeigt indes deutlich, dass der Anteil der Kindergeldbezugsberechtigten unter den Ausländern aus Rumänien und Bulgarien 2012 sogar niedriger war (7,9%) als im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung.

So wichtig es ist, die Sorgen der Menschen und die spezifischen Probleme einzelner Regionen ernst zu nehmen, so richtig ist es auch, die Fakten zu betrachten und tendenziell fremdenfeindliche Polemik zurückzuweisen. Nach meiner Einschätzung handelt es sich bei der Debatte um Armutsmigration auch um ein Ablenkungsmanöver von anderen Problemen. Gerade jene, die nun am lautesten gegen „Armutseinwanderung“ polemisieren, sind meist die Leisesten, wenn es um „Reichtumsauswanderung“ geht. Dabei gehen dem deutschen Fiskus durch Steuerflucht und -hinterziehung jährlich viele Dutzende Milliarden Euro verloren - Summen, die nicht einmal die kühnsten MigrationsgegnerInnen mit Sozialbetrug durch RumänInnen und BulgarInnen in Verbindung bringen würden.

Und ganz abgesehen von diesen faktischen Schwächen der Anti-Migrations-Polemik bin ich sehr unglücklich darüber, wie unmenschlich die Debatte teilweise läuft. Die Europäische Integration ist m.E. nur dann ein sinnvolles Projekt, wenn sie den Menschen mehr Freiheit und eine höhere Lebensqualität sichert und die Solidarität innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten befördert. Das wirft Fragen auf wie: Was treibt die Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen? Wie können wir die MigrantInnen am besten integrieren und unterstützen? Wie können wir die Lebensbedinungen in ihren Heimatländern verbessern? Diese wichtigen Fragen spielen in der ganzen Debatte eine beschämend kleine Rolle.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Alexander Ulrich

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