Frage an Claudia Lücking-Michel bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

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Claudia Lücking-Michel
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Frage an Claudia Lücking-Michel von Andreas S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrte Frau Lücking-Michel,

Ihre Partei, die CDU, formulierte in einem Flugblatt zur Europawahl 1999 wörtlich:
"Deutschland muss nicht für die Schulden anderer Länder aufkommen. Der Maastrichter Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die Europäische Union oder die anderen EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedsstaates haften."
Mittlerweile haftet Deutschland mit über 650 Milliarden Euro (das sind über 118 mal die Gesamtkosten, die für das Milliardenprojekt Stuttgart 21 veranschlagt sind) für die südeuropäischen Krisenstaaten.

Dazu meine Frage:
Verstehe ich das Flugblatt richtig, wenn ich feststelle, dass die gegenwärtige Politik der Bundesregierung einen permanenten Bruch europäischen Rechtes darstellt? Falls nein, wie sollte ich das Flugblatt dann verstehen?

Mit freundlichen Grüssen,
Andreas Schönberger.

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CDU

Sehr geehrter Herr Schönberger,

vielen Dank für Ihre Mail, zu der ich Ihnen folgendes mitteilen kann:

Wie Sie richtig schreiben wurde mit dem Vertrag von Maastricht erstmals die so genannte Nichtbeistands-Klausel (auch No-Bailout-Klausel) in die Europäischen Verträge aufgenommen, die eine Haftung der Europäischen Union sowie aller Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten einzelner Mitgliedstaaten ausschließt.

Angesichts der dramatischen Situation in Griechenland und im Nachgang zur bislang größten weltweiten Finanzkrise machten die Staats- und Regierungschefs der Euroländer aber in den Jahren 2009/2010 von Art.122 EU-Vertrag Gebrauch. Dieser Artikel besagt, dass der Ministerrat in Notsituationen, insbesondere bei Versorgungsengpässen, erforderliche Maßnahmen ergreifen kann.
Mit Hinweis auf die No-Bailout-Klausel wurde außerdem von den nationalen Regierungen argumentiert, dass die Nichtbeistandsklausel nur die automatische Haftung, nicht die freiwillige Übernahme von Bürgschaften verbietet.

Im Jahr 2010 wurde dann im Rahmen der Finanz- und Staatsschuldenkrise zur finanziellen Unterstützung von Mitgliedstaaten des Euroraums der Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und ab 2012 als dessen Nachfolger der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) gegründet. Es handelt sich bei dem EFSF um eine luxemburgische Aktiengesellschaft und beim ESM um eine eigene völkerrechtliche Institution, die formal beide nicht in den EU-Rechtsrahmen eingebunden sind.

Dennoch wurden im Mai 2010 mit Hinweis auf die Nichtbeistandsklausel vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Klage gegen den Stabilisierungsmechanismus erhoben. Am 7. September 2011 hat das BVerfG die Klage zurückgewiesen. In der entsprechenden Pressemitteilung des BVerfG heißt es:

"Das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht in der Fassung des Vertrags von Lissabon gewährleistet nach wie vor verfassungsrechtlich hinreichend bestimmt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland keinem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus einer Haftungsgemeinschaft unterwirft. Keines der beiden angegriffenen Gesetze begründet oder verfestigt einen Automatismus, durch den der Bundestag sich seines Budgetrechts entäußern würde.

Das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz beschränkt die Gewährleistungsermächtigung der Höhe nach, bezeichnet den Zweck der Gewährleistung, regelt in gewissem Umfang die Auszahlungsmodalitäten und macht bestimmte Vereinbarungen mit Griechenland zur Grundlage der Gewährleistungsübernahme."
( http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg11-055.html )

Die maximalen Haftungsrisiken für Deutschland belaufen sich übrigens nach Angaben der Bundesregierung wegen ausgezahlter und zugesagter Finanzhilfen auf insgesamt maximal rund 310 Milliarden Euro, davon sind bisher insgesamt rd. 131 Milliarden Euro ausgezahlt.

Neben dieser rechtlichen Betrachtung erlauben Sie mir bitte auch aus europa- und finanzpolitischer Sicht, Argumente für die europäische Solidarität anzuführen.

Ohne die Solidarität mit den Krisenländern wäre die gemeinsame Währung stark gefährdet. Eine Aufgabe des Euro oder ein Austritt einzelner Länder aus der Euro-Zone hätte für Deutschland als exportanhängiges Land erhebliche negative wirtschaftliche Folgen. Wir waren und sind in Deutschland als Exportnation, die ca. 70% ihrer Waren in die EU und ca. 40% in die Euro-Zone ausführt, einer der größten Nutznießer des Euros.

Bei einem Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro ist die Gefahr von Dominoeffekten und in der Folge einem Zusammenbruch des gesamten Euro-Systems sowie einer schweren Weltwirtschaftskrise sehr hoch.

Diese Auffassung vertritt übrigens ebenfalls der Sachverständigenrat der Bundesregierung in einem Sondergutachten von Juli 2012. Nach Meinung der so genannten Wirtschaftsweisen aus dem Sachverständigenrat wäre ein unkontrolliertes Auseinanderbrechen des Euro-Raums für Deutschland mit hohen Risiken verbunden. Der Finanzwirtschaft sowie den deutschen Unternehmen und Privatpersonen drohten demnach bei einer Auflösung der Währungsunion erhebliche Verluste.
Auf 2.8 Billionen Euro belaufen sich die Auslandsforderungen Deutschlands gegenüber dem Euro-Raum Ende 2011 - Forderungen der Bundesbank nicht mit einberechnet. Rund 1,5 Billionen Euro entfallen dabei auf Wirtschaftsunternehmen und Private.

Die Bertelsmann-Stiftung geht in einer Studie aus 2012 davon aus, dass allein der isolierte Austritt Griechenlands aus der Eurozone für Deutschland zunächst Einbußen in der Wirtschaftsleistung von insgesamt 73 Milliarden Euro bis zum Jahre 2020 bedeuten würde.

Gerade die Bundesrepublik Deutschland muss aus den o.a. Gründen ein vitales Interesse am Erhalt der Währungsunion haben und sollte nachhaltige europäische Lösungen anstreben, zu der eben auch die Rettung Griechenlands und die Solidarität mit den Krisenstaaten gehören.

Wir handeln deshalb alle in der Überzeugung, dass wir mit der Hilfe an Griechenland "Schlimmeres" verhindern, was uns sonst noch viel teurer zu stehen kommen würde als die derzeitigen immens hohen Transferleistungen. Unkalkulierbar wären insbesondere die Folgewirkungen für den Euro sowie die gesamteuropäische Idee und die europäische Identität der Bürgerinnen und Bürger.

Ich hoffe sehr, Ihnen mit diesen umfangreichen Anmerkungen meine Position näher gebracht zu haben.

Mit freundlichen Grüßen
Claudia Lücking-Michel