Wie ist Ihre Position zu der Tatsache, dass die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen seit Jahrzehnten bei dem Gesundheitsskandal mit ME/CFS grandios versagt hat? Muss die Politik dann eingreifen?

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Linda Heitmann
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Stefan A. •

Wie ist Ihre Position zu der Tatsache, dass die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen seit Jahrzehnten bei dem Gesundheitsskandal mit ME/CFS grandios versagt hat? Muss die Politik dann eingreifen?

ME/CFS (G93.3) ist seit 1969 von der WHO als neurologische Erkrankung klassifiziert. Dies wurde von der WHO seither ständig, also durchgehend korrekt, bestätigt. Der internationale Forschungsstand durch seriöse Evidenz von anerkannten Experten zu ME/CFS als schwerwiegende und häufige neuroimmunologische Multisystemerkrankung ist seit vielen Jahren, trotz stets nur geringer Forschungsgelder, völlig ausreichend und inzwischen überwältigend klar für die Zuordnung als körperliche Erkrankung. Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen hat dies ignoriert bzw. beharrlich ausgeblendet und hat nicht funktioniert zum massiven Schaden der Erkrankten und der Gesellschaft. Die Selbstverwaltung hatte und hat hier breit ihren Kompass verloren und ist aus eigener Kraft nicht in der Lage, sich zu korrigieren. ME/CFS wurde dadurch zum blinden Fleck im Gesundheitssystem. Wann kommen hier die dringend notwendigen Eingriffe und Reformen durch den Gesetzgeber? Dies darf sich künftig nicht mehr wiederholen.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr A.,

vielen Dank für Ihre Zuschrift.

Wie Sie aus den zahlreichen Beiträgen auf meinen Kanälen wie auch in den Antworten auf einige Antragen zum gleichen Thema hier auf Abgeordnetenwatch (z.B. https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/linda-heitmann/fragen-antworten/wie-ist-ihre-position-zu-myalgischer-enzephalomyelitis-me/cfs-und-was-werden-sie-konkret-unternehmen-um-die) entnehmen können, liegt es mir das Thema sehr am Herzen.

Auf allen Kanälen erreichen uns sehr viele Schreiben von Menschen mit ME/CFS-Erkrankung oder deren Angehörigen, die ihre gesundheitliche Verfassung sehr ausführlich schildern sowie ihren Unmut über die unzureichende Versorgungslage äußern. Wir wissen um die großen Einschnitte im Leben sowie die schwierige Lage, in der die ME/CFS-erkrankten Patient*innen und ihre Angehörigen durch ihre Einschränkungen im Alltag und z.T. den dauerhaften Pflegebedarf sind. Zudem ist uns bewusst, dass sie im Gesundheitssystem vielfach auf Unverständnis treffen, dass Fehldiagnosen gestellt werden oder einzelne Ärzte*innen für Diagnosen teilweise viel privates Geld verlangen, wenn Betroffene bei Ärzte*innen mit Kassenzulassung teilweise über lange Zeiträume keine Termine erhalten.

Vor diesem Hintergrund bemängeln Sie zurecht die aktuelle Forschungs- und Versorgungslage. Dabei ist ME/CFS als neurologische Erkrankung bereits seit 1969 anerkannt. Nichtsdestotrotz haben viele Vorgängerregierungen dieser Erkrankung und den Betroffenen kaum Aufmerksamkeit gewidmet und Maßnahmen diskutiert, obwohl wir Grüne (beispielsweise durch eine Kleine Anfrage vom 7. August 2019, https://dserver.bundestag.de/btd/19/122/1912204.pdf?fbclid=IwAR0wrCUhCpAX8Ilf6k9RfCtPt8CeP2IfkAF67HYDezcb7cMPkjmpzRq6fko) die vorherige Regierung bereits dazu aufgefordert haben, sich des Themas endlich anzunehmen.

Erst seit dieser Legislatur haben wir die mangelhafte Versorgungs- und Forschungslage auf die politische Agenda gesetzt haben und bereits entscheidende Verbesserungen eingeleitet. Nicht zuletzt hat ME/CFS als eines von ganz wenigen Krankheitsbildern erstmals auch explizit Eingang in unseren Koalitionsvertrag gefunden. Es gab auch mehrere der Anträge der Union zum Thema, die in ihren Forderungen aus unserer Sicht jedoch entweder bereits eingeleitet wurden oder politisch nicht zielführend waren. So kann die Politik beispielsweise weder Curricula für die Fortbildungen von Mediziner*innen selbst festlegen noch kann sie selbst Schwerpunktarztpraxen und -kliniken finanzieren. Aber wir haben auf Grundlage dieser Anträge sehr gewinnbringende Fachgespräche und Expertenanhörungen im Gesundheitsausschuss durchgeführt, in denen auch die Handlungsspielräume ausgelotet wurden. Einige meiner persönlichen Beiträge finden Sie übrigens auch auf meiner Webseite unter: https://linda-heitmann.de/?s=ME%2FCFS. Auch befassen wir uns fraktionsübergreifend bereits seit Frühjahr 2022 im Rahmen einer Petition damit, welche Verbesserungen seitens der Politik möglich und nötig sind, um die Änderungen zur Versorgung von ME/CFS-Patient*innen im Gesundheitswesen anzustoßen. Zu der erwähnten Petition haben wir am 5. Juli 2023 im Petitionsausschuss den einstimmigen Beschluss gefasst, diese zur Berücksichtigung an die Bundesregierung zu überweisen.

Im Koalitionsvertrag haben wir uns – wie schon erwähnt - bereits auf die Verbesserung der Forschung und der Versorgung verständigt. Auch wenn es keinen Gesetzestext oder Koalitionsantrag gibt, der den Namen „ME/CFS“ trägt, so haben wir als Ampel doch seit Beginn der Legislatur eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Forschung und Versorgung gezielt zu verbessern:

  • Zur Forschungsförderung sind Haushaltsmittel in Höhe von 22,5 Millionen Euro für 2022 und 2023 bereitgestellt worden und werden bereits bewirtschaftet. Im Vergleich zu anderen Forschungsfeldern gibt es damit hier eine recht hohe Bewilligungsquote von Forschungsanträgen (etwa 1/3 der Summe aller beim BMBF eingegangenen Anträge wurden bewilligt). Dazu gehört beispielweise eine klinische Studie an der Charité Berlin, in deren Rahmen aktuell die Wirksamkeit von vier Gruppen von bereits bekannten Medikamenten für die Behandlung von Patient*innen mit Long-Covid und Chronischem Fatigue Syndrom erforscht wird. Dies ist sehr wichtig, um potenzielle Behandlungsmöglichkeiten auf verschiedene Wirkstoffe auszuweiten. Es ist sehr erfreulich, dass sich laut den Angaben von Frau Prof. Scheibenboden ein Forschungsnetzwerk aufbaut und damit die von der Ampel eingeführte Forschungsförderung Wirkung entfaltet.
  • Ein ganz zentrales Anliegen von uns Grünen ist es, gemeinsam mit den Ampel-Partner*innen die Versorgungssituation durch Spezialambulanzen zu verbessern, damit mehr Menschen schneller eine Diagnose bekommen aufgrund derer sie adäquat behandelt werden können. Dazu wurde nun der Gemeinsame Bundesausschuss, der die inhaltlichen Vorgaben der gesundheitlichen Versorgung macht, im Rahmen des Krankenhauspflegeentlastungsgesetzes von uns per Gesetz beauftragt. Er muss bis Ende diesen Jahres eine Richtlinie für die interdisziplinäre und standardisierte Diagnostik von Long-Covid und Krankheitsbildern mit starken Erschöpfungs-Zuständen wie etwa ME/CFS erarbeiten. Gleichzeitig wird dadurch festgelegt, wie den Versicherten ein zeitnaher Zugang zu einem multimodalen Therapieangebot gesichert werden muss. Außerdem wurde eine Telefonhotline für Betroffene eingerichtet, um den Betroffenen einen ersten Anlaufpunkt zu geben und sie über bereits bestehende Versorgungsangebote adäquat zu informieren und zu beraten.
  • Darüber hinaus sind wir bemüht, die politische und wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema anzuregen, um die Erkrankung bekannter zu machen. Zu diesem Zweck haben wir als Ampel und als Grüne Fraktion bereits verschiedene Veranstaltungen organisiert. Neben dem von der Ampelkoalition organisierten Fachgespräch vom 6. Juli 2022 führen wir auch in unseren Wahlkreisen Gespräche. Am 31. Mai 2023 habe ich beispielsweise an einem von den Grünen in Hamburg organisierten Fachgespräch mit Krankenkassen und Krankenhausgesellschaft teilgenommen.

 

Dieses alles sind sehr wichtige Maßnahmen, die ihre Wirkung teilweise erst mit der Zeit zeigen werden. Denn die Erforschung des Krankheitsbildes und insbesondere die Entwicklung von Medikamenten und Therapiemethoden brauchen eine gewisse Zeit, um zuverlässige Ergebnisse zu liefern. Und auch als Politik können wir leider immer nur verschiedene Stellschrauben in Gesetzesvorhaben, in Haushaltsberatungen oder in unserer Öffentlichkeitsarbeit drehen, aber natürlich leider keine Heilung versprechen.

Mit freundlichen Grüßen

Linda Heitmann, MdB

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