Frage an Manuel Sarrazin bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Manuel Sarrazin
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Burkhard L. •

Frage an Manuel Sarrazin von Burkhard L. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Sarazin,

sicherlich ist Ihnen u Ihrer Partei bewußt, daß es über Jahre bzw Jahrzehnte Versprechen seitens der Politik gegeben hat, das Deutschland kein Einwanderungsland ist oder werden wird.
Inzwischen hat die Politik heimlich die Seiten gewechselt u mehr oder weniger unverholen wird eine gegenteilige Meinung vertreten, vermutlich um ebenbürtig zu den USA stehen zu können. Allerdings haben diese eine andere Geschichte (USA,Australien sind klassische Einwanderungsländer- allerdings auf Kosten der Ureinwohner). Andere Staaten die da gleichfalls großzügig mit der Einwanderung umgehen haben wohl berechtigterweise auch ihrer Verantwortung gerecht zu werden (GB,Frankreich,NL,Belgien usw), die sie in der Vergangenheit durch Ausbeutung oder Aufnahme /Angliederung in ihr Staatsgefüge auf sich geladen haben - es trifft aber kaum auf Deutschland zu ! Der deutsche Wähler denkt nachwievor so, in der Mehrheit, solange wie es ihn noch gibt.
Wie stehen Sie u/o Ihre Partei zu diesem gebrochen Versprechen ? Sie sollten aber nicht in diesem Zusammenhang die EU zitieren, denn die spricht nur wie ihre Mitglieder es zulassen. Vergessen Sie auch nicht, daß der deutsche Bürger ein Recht auf seine Identität hat, die ganz selbstverständlich seit längerem von kleinen Gruppierungen, die sich hier niedergelassen haben, gefordert und tolleriert werden. Die deutsche Identität sollte gefördert werden, ohne Hysterie zu entfachen, denn sie ist die Grundlage für Leistungskraft u Wohlergehen dieses Staates. Alle früheren Hochkulturen haben ähnliche Fehler begangen wie wir sie z.Z. auch machen, es ist kein Automatismus der uns mit diesen Vorzügen beläßt. Esgäbe noch vieles zu sagen,aber belassen wir es hierbei, ich würde mich auf Ihre Stellungnahme freuen !
MfG
B.Laatsch(z.Z.ein Nichtwähler)

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Laatsch,

vielen Dank für Ihre Anfrage zum Thema Integration.

Sie schreiben von einem Versprechen der Politik, welches besagt, dass „Deutschland kein Einwanderungsland ist oder werden wird“. Dieses Versprechen hat es u.a. von Manfred Kanther gegeben, der von 1993 bis 1998 Bundesminister des Inneren war. Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen allerdings deutlich, dass es Einwanderung in Deutschland schon seit vielen Jahrzehnten gibt. Eine entsprechende Tabelle finden Sie unter http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Zeitreihen/LangeReihen/Bevoelkerung/Content75/lrbev07a,templateId=renderPrint.psml#Fussnote1 (abgerufen am 23.08.2010 um 11:54 Uhr). Insofern kann und konnte schon seit Jahrzehnten von einem Einwanderungsland Deutschland gesprochen werden - ein derartiges Versprechen war und ist damit nicht haltbar.

Bündnis 90/Die Grünen halten nichts von einem Versprechen gegen Einwanderung. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Migrantinnen und Migranten sind Teil unserer Gesellschaft. Diese Vielfalt ist eine Bereicherung und bedeutet zugleich auch eine Herausforderung. Wir verstehen die Gestaltung der multikulturellen Demokratie auf Grundlage gemeinsamer republikanischer Werte als zentrale politische Aufgabe.

Sie sprechen an, dass jeder deutsche Bürger und jede deutsche Bürgerin ein Recht auf seine oder ihre Identität hat. Dem stimme ich natürlich zu, denn jeder Mensch hat das Recht auf die Herausbildung einer persönlichen Identität. Die Frage der Nationalität spielt dabei eine Rolle; hierbei darf die Beschäftigung mit der Geschichte und die Herausbildung eines Geschichtsbewusstseins allerdings nicht übergangen werden. Natürlich müssen auch viele andere Faktoren berücksichtigt werden. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass durch die Migration die deutsche Bevölkerung an der Herausbildung einer nationalen Identität gehindert wird. Vielmehr sehe ich in der Einwanderung die Möglichkeit, neue Perspektiven zu erkennen und sich kritisch mit der Frage der Identität auseinanderzusetzen. Indem über die deutsche Identität diskutiert und diese immer wieder neu definiert wird, wird Menschen die Möglichkeit der bewussten Identitätsbildung gegeben, die sich klar von Nationalismus abgrenzt. Wir sollten die Vielfalt als Chance begreifen, nicht als Gefahr.

Die Ausgabe 40/2006 der Zeitschrift „Das Parlament“ beschäftigt sich mit der nationalen Identität der deutschen Bevölkerung. Sie können die Ausgabe unter folgendem Link finden: http://www.das-parlament.de/

Eine interessante Zusammenstellung über die Positionen verschiedener Schriftsteller/innen, Politikwissenschaftler/innen und Philosoph/innen zur Frage „Was ist Deutsch?“ finden Sie auf dem Internetauftritt vom Deutschlandfunk: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/deutsch/

Ferner sprechen sie die Kolonialgeschichte und die daraus resultierende Verantwortung einiger europäischer Staaten an. Ich komme aus Hamburg - dort (wie aber übrigens auch in Berlin und an vielen anderen Orten in Deutschland) ist die Kolonialgeschichte der Stadt an vielen Stellen deutlich erkennbar. Insofern teile ich Ihre Aussage „es trifft aber kaum auf Deutschland zu!“ nicht. Zu Hamburgs Kolonialgeschichte habe ich eine Broschüre verfasst, die ich Ihnen gerne zuschicke, wenn Sie mir Ihre Adresse mitteilen.

Ich hoffe, Ihnen meine und die grüne Position etwas deutlicher gemacht zu haben. Für Rückfragen können Sie sich gerne an mich wenden.

Mit freundlichen Grüßen,

Manuel Sarrazin