Frage an Stefan Liebich bezüglich Wirtschaft

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Stefan Liebich
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Frage von Ulrich vom H. •

Frage an Stefan Liebich von Ulrich vom H. bezüglich Wirtschaft

Werter Herr Liebich,

die öffentlichen Hände Deutschlands sind drastsisch überschuldet. Dies führt u.a. dazu, dass 2005 mehrere Bundesländer nicht mehr in der Lage sind einen verfassungsgemäßen Haushalt vorzulegen. Das Land Berlin zahlt täglich mehre Millionen Euro an Kreditzinsen. Dieses Geld kommt den Banken und indirekt vor allem ihren wohlhabenden Kunden zu.
Wie wir in Berlin und in anderen Bundesländern sehen können ist ein sozialgerechter Schuldenabbau nicht mehr möglich. Ländern der Dritten Welt werden in solchen Situationen manchmal die Schulden erlassen. In Deutschland bietet Artikel 15 des Grundgesetzes die Möglichkeit zur Vergesellschaftung. Dies könnte in Verbindung mit Artikel 14 (3) GG auf die Überschuldung der öffentlichen Hände angewendet werden.
Sind Sie und die Linkspartei bereit sich für die Vergesellschaftung von Darlehen einzusetzen, um so die Überschuldung unseres Gemeinwesens zu beenden?

Mit den besten Grüßen,
Ulrich vom Hagen

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DIE LINKE

Sehr geehrter Herr vom Hagen,

leider läuft Ihre Forderung schon bei einem kurzen Blick in die von Ihnen selber erwähnten Artikel des Grundgesetzes ins Leere: Vergesellschaftungen sind nur gegen angemessene Entschädigung möglich. Das hieße praktisch, den Gläubigern einen "Vergleich" anzubieten - die sofortige Bedienung ihrer Forderung im Tausch gegen Verzicht auf eigentlich zustehenden Zins und Zinseszins für die erworbenen Staatsanleihen. Selbst eine solche Maßnahme ließe sich aber nur über Kredit finanzieren, da selbst einmalige Vermögensabgaben etc. niemals die erforderlichen Summen zur sofortigen "Ablösung" mobilisieren könnten. Bekanntlich nähern sich die öffentlichen Schulden in der Bundesrepublik der 70%-Marke der jährlichen Wertschöpfung. Man müsste also praktisch weite Teile der Wertschöpfung eines Jahres "konfiszieren", um den bisherigen Schuldenberg abzulösen - LohnempfängerInnen wie Sozialgeldbeziehende müssten dann ihren Lebensunterhalt auf individuellen Kredit finanzieren, den sie dann dem Staat in Rechnung stellen! Dafür kann sich eine linke, sozialistische Partei ja nicht ernsthaft einsetzen wollen. "Vergesellschaftung von Darlehen" ist nur erneute Vergesellschaftung bestehender Schulden - egal, wie man es drehen möchte.

Das ist auch unschwer am Schuldenerlass in der dritten Welt erkennbar. Erstens ist er in aller Regel mit harten, für Sozialisten unakeptablen Bedingungen gegenüber den dortigen Gesellschaften verbunden, zweitens bedeutet der Schuldenerlass ja "nur" Schuldenübernahme durch die Bevölkerung der "Gläubigerstaaten" - die Schulden sind nicht weg, nur auf andere Schultern der Allgemeinheit verteilt.

Welche Alternativen zur Herstellung ausgeglichener öffentlicher Haushalte - d.h. zur drastischen Einnahme-Verbesserung, z.B. mittels des von der Linkspartei.PDS vorgelegten Steuerkonzepts, bei gleichzeitigem sozial ausgewogenem Sparen - hat eine sozialistische Regierungspartei in einem konkursreifem Bundesland in einer kapitalistischen Welt?

Mir scheint, recht wenige. Der Versuch, Kredite einfach nicht mehr zu bedienen oder Zinsen zu kürzen, ist für ein Gemeinwesen, dessen Verbindlichkeiten mittlerweile das Fünffache seiner jährlichen Einnahmen betragen, zwangsläufig tödlich. Wovon soll es leben, wenn es mangels Vertrauen von Anlegern keinen Cent mehr bekommt?

Zumal sich auch hinsichtlich dieser Anleger nicht automatisch die „Klassenfrage“ stellt: Berlin finanziert wie alle Länder seine Kredite über unbegrenzt handelbare Schuldscheindarlehen (ein Viertel bis ein Drittel) und im übrigen über sowieso frei handelbare Wertpapiere. Erstkäufer sind zur Hälfte Banken – die aber bekanntlich auch nicht Besitzer, sondern lediglich Sammelstellen des in Berlin „investierten“ Geldes sind -, zu einem Fünftel Versicherungen und im übrigen überwiegend Fondsgesellschaften. Stiftungen, Unternehmen und unmittelbar Privatpersonen kaufen offenbar nur noch einen sehr kleinen Teil.

Besonders interessant wäre natürlich, wo genau unsere Schuldscheine letztlich landen. Die letzte mir dazu bekannte Bundesbank-Statistik bezieht sich auf den September 1999: Damals lagen 49 % der hierzulande herausgegebenen Schuldverschreibungen in den USA, Tendenz steigend – nur 6,3 % in der BRD selber. Sie verteilten sich im übrigen wie folgt: 19,5 % Japan, 4,9 % Italien, 3,8 % Frankreich, 3,0 % Großbritannien, 13,5 % übrige Welt (wohl vor allem fernöstliche Schwellen-, arabische Öl-Länder, Russland, kleinere EU-Staaten). Womit klar sein dürfte: Ein Crash bei den öffentlichen Schulden würde absehbar nicht nur die Gates, Quandt’s oder Chodorowski’s dieser Welt treffen, sondern auch den Automobilarbeiter in Detroit, dessen Altersvorsorge in einem gewerkschaftlichen Pensionsfonds ruht. Aber eben absehbar auch die Berliner Verkäuferin, die ob ihres mickrigen Lohnes Wohngeld von der Kommune bezieht, aber sich jeden Monat 25 € für ihre Lebensversicherung vom Munde abspart...

Natürlich konnte man im vergangenen Jahrhundert in Deutschland zwei mal erleben, wie sich milliardenschwere öffentliche Schulden über Nacht ins Nichts auflösten – 1923 und 1948. Nur wird wohl kein Sozialist die Ursache dieser Lösung – jeweils ein Weltkrieg – als Rezept propagieren. Und belastet selbst diese „Lösung“ doch vor allem jene, die nur ihre Arbeitskraft, nicht aber Immobilien oder anderes materielles Kapital besitzen. Denn wie der Staat werden letztere die auf ihrem Kapitalstock lastenden Kredite los, erstere „nur“ ihre Ersparnisse...

Mit den besten Grüßen
Stefan Liebich