Frage an Ulla Jelpke bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Ulla Jelpke
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Frage von Mück H. •

Frage an Ulla Jelpke von Mück H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Hallo, Frau Jelpke,

mit großem Interesse verfolge ich Ihre Politik. Ich darf wohl behaupten, dass Sie sich das Thema "Widerstand gegen rechte Chaoten" ganz groß auf die Fahne geschrieben haben. In den allmonatlich durch Sie initiierten Kleinen Anfragen an die Bundesregierung spüren Sie dem Treiben der braunen Schwestern und Brüder nach. Das finde ich gut und unterstütze ich sehr!

Bei der ebenso notwendigen Verfolgung der anderen Seite der Chaotie, gemeint sind die Linksradikalen und Islamfaschisten, sind Sie allerdings seltsam stumm. Das verstehe ich nicht! Ich bitte Sie hier um Aufklärung und richte deshalb heute Fragen an Sie.

1.
Warum fragt Ihre Fraktion in den Kleinen Anfragen an die Bundesregierung nicht stets auch zugleich nach den Vergehen und Verbrechen der Linksradikalen und Islamfaschisten? Gefärden die Vertreter dieses Spektrums die Demokratie nicht auch genauso stark wie die Rechtsradikalen? Wenn nein: Warum nicht?

2.
Während der Fußballweltmeisterschaft hat eine überwältigend große Zahl an Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund die Daumen für die deutsche Nationalmannschaft gedrückt. Ausdruck dieser Sympathie war auch das Hängen einer sehr großen Deutschlandfahne an ein Haus in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln (Bild und andere überregionale Medien berichteten). Zweimal wurden Exemplare der deutschen Fahne abgerissen und gestohlen. Die Initiatoren und Eigentümer der Fahne, Bürger mit Migrationshintergrund dieses Landes, wollten und mussten schließlich nachts Wache halten, um ihre Fahne, ihr Eigentum zu schützen. Warum haben Sie, Frau Jelpke, und Ihre Partei nicht - wie auch sonst gegen rechte Aggressoren - gegen diese Übergriffe auf das Eigentum von Menschen mit Migrationshintergrund durch Linksextremisten protestiert und sind auf die Straße gegangen? Hätte es für Sie einen Unterschied gemacht, wenn der rechte Mob zugeschlagen hätte?

Ich bitte Sie um ehrliche Antworten. Vielen Danke im Voraus!

Beste Grüße, H. Muck

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Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Muck,

ich halte es für eine völlige Verharmlosung von Nazigewalt, hier von „rechten Chaoten“ zu sprechen. Seit 1990 sind mehr als 140 Menschen aufgrund neofaschistisch oder rassistisch motivierter Gewalt ums Leben gekommen – und eben nicht aufgrund linksmotivierter Gewalt. Schon aus diesem Grund verbietet sich mir auch die von Ihnen vorgenommene Gleichsetzung von rechts und links. Während von Neonazis tatsächlich eine Gefahr für Leib und Leben für viele Menschen ausgeht, kann ich eine Gefährdung der Demokratie durch Linke nicht erkennen. Linke Aktivitäten haben in der Regel vielmehr die Zielsetzung, demokratische Handlungsspielräume zu erweitern. Eine Vielzahl der in den Polizeistatistiken genannten Straftaten von Linken finden gerade im Zusammenhang mit Blockaden gegen Naziaufmärsche statt, in denen Anwohner und andere Antifaschisten ihre Viertel gegen provokative und bedrohliche Durchmärsche von Faschisten verteidigen.

Im übrigen habe ich kürzlich tatsächlich bei der Bundesregierung in einer ausführlichen Kleinen Anfrage abgefragt, welche Erkenntnisse es dort über einen angeblich starken Anstieg linksmotivierter Gewalt gibt (BT-Drs. 17/1928). Die offiziellen Zahlen, die eine Zunahme linker Gewalttaten belegen sollen, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Seifenblasen. Gerade bei den immer wieder genannten Delikten ‚Widerstand’ und ‚Autobrandstiftungen’ gibt es kaum belastbare Zahlen, die auf eine Verantwortlichkeit linker Aktivisten hinweisen. Die Legende vom gewalttätigen Linksextremismus lässt sich empirisch damit nicht beweisen. Insgesamt verzeichnet die Bundesregierung für das Jahr 2009 gerade einmal 259 Widerstandshandlungen gegen Vollzugsbeamte, die sie Linken zurechnet. Angesichts von insgesamt 25.400 angezeigten Verstößen gegen § 113 StGB kann eine besondere Gefährlichkeit der linken Szene nicht bewiesen werden. Eine genauere Aufschlüsselung der Widerstands-Handlungen fehlt völlig. Wie viele dieser Delikte im Rahmen von Festnahmen erfolgten, in Zusammenhang mit Demonstrationen oder Protesten gegen Nazi-Aufmärsche, im normalen Streifendienst, wie viele Täter alkoholisiert waren – darüber fehlt jegliche Information. Unbekannt ist auch, inwiefern die betroffenen Beamten aufgrund von Angriffen dienstunfähig waren. Hinsichtlich der Autobrandstiftungen gibt es keine Statistik über die Gesamtzahl, so dass der Anteil der als ‚links’ registrierten Taten gar nicht in Relation gesetzt werden kann. Ohnehin haben die Ermittlungsbehörden bisher keine Nachweise für eine relevante ‚linke’ Tatbeteiligung. Es könne ‚keine Auskunft darüber gegeben werden, in wie vielen Fällen es Bekennerschreiben oder -anrufe gegeben hat’, so die Bundesregierung. Auch bei Verurteilungen: Fehlanzeige. Wenn dennoch bundesweit 224 Autobrandstiftungen Linken zugeordnet werden, liegt der Verdacht der Willkür nahe. Das muss dann auch für eine ganze Reihe anderer Gewaltkategorien befürchtet werden. Fazit: Die vorliegenden Zahlen erlauben keine politischen Schlussfolgerungen - schon gar nicht eine Verharmlosung der von Neonazis ausgehenden Gewalt.

Unklar ist mir, was Sie unter „Islamfaschisten“ verstehen. Diesen unwissenschaftlichen Begriff benutze ich nicht, ebenso wenig übrigens wie die Bundesregierung oder die Sicherheitsbehörden. Schon von daher erübrigen sich diesbezügliche Kleine Anfragen zum Thema „Islamfaschismus“. Auch erscheint mir Ihre Frage, wie DIE LINKE reagiert hätte, wenn Neonazis eine Deutschlandfahne entwenden sollten, nicht wirklich nachvollziehbar.

Im Übrigen sind mir eine ganze Reihe Neuköllner Bürgerinnen und Bürger mit und ohne Migrationshintergrund bekannt, die sich – bei aller Liebe zum Fußball – von einem derartig zur Schau gestellten nationalistischen Rummel mit Deutschlandfahnen belästigt fühlten. Die Identifikation vieler Menschen mit Migrationshintergrund mit der deutschen Nationalfahne und der Nationalelf ändert leider nichts daran, dass weiterhin keine gleichen Rechte für Deutsche und Nichtdeutsche in diesem Land existieren. Darin sehe ich das wirkliche Problem.

mit freundlichen Grüßen,

Ulla Jelpke