Hallo! Warum haben sie für das Selbstbestimmungsgesetz gestimmt?

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Canan Bayram
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Ravza E. •

Hallo! Warum haben sie für das Selbstbestimmungsgesetz gestimmt?

Eine Frau bzw. ein Mann zu sein ist keine psychische Identität, es ist eine biologische Realität. Die Konsequenzen dieses Gesetztesentwurfes werden z. B. für Frauen und Mädchen in Gefängnissen, im Sport oder Frauen und Mädchen die jegliche Gewalt erfahen haben und nach orten schauen an denen sie nur unter Frauen sein können, fatal.
Hier wird aufgezeigt, inwiefern Frauen bereits durch ähnliche Gesetzte in anderen Ländern Gewalt erfahren mussten.

https://fairplayforwomen.com/campaigns/prisons/

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Bündnis 90/Die Grünen

Guten Tag, 

Selbstbestimmt leben zu können, ist ein zentrales Bedürfnis für alle Menschen. Aus Überzeugung trete ich für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen ein, selbstverständlich auch für die sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung queerer Menschen.

Deshalb ist es ein großer Erfolg, dass wir als Ampel-Koalition transgeschlechtlichen Menschen endlich geschlechtliche Selbstbestimmung ermöglichen werden. Nach Jahrhunderten der Kriminalisierung, Pathologisierung sowie gegenwärtig immer noch bestehenden alltäglichen Diskriminierungen und Exklusionen ist dieser Schritt mehr als überfällig. Es geht um nichts weniger, als transgeschlechtlichen Menschen endlich ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das geplante Selbstbestimmungsgesetz soll ein einfaches, einheitliches Verfahren für eine Korrektur des Personenstandseintrags ohne diskriminierende Begutachtungen und Fremdbestimmung schaffen. Damit werden die Grundrechte gestärkt.

Wie notwendig es ist, endlich zu einer Gesetzgebung zu kommen, die transgeschlechtlichen und nicht-binären Menschen vollumfänglich einen gesicherten Platz in unserer Rechtsordnung garantiert, zeigt schon das schockierende Ausmaß an Gewalt, der transgeschlechtliche und nicht binäre Menschen ausgesetzt sind.

Der 2. Berliner Monitoring-Bericht zu homo- und transfeindlicher Gewalt in Berlin hat erschreckende Fakten offengelegt: Zwei Drittel der befragten trans* Personen (66 %) haben in den letzten fünf Jahren Gewalterfahrungen gemacht, fast die Hälfte (48,2 %) im letzten Jahr. Obwohl bei fast zwei Dritteln (61,3 %) der berichteten Gewaltvorfälle unbeteiligte Personen zugegen waren, haben die Betroffenen nur in wenigen Fällen (7 %) Hilfe oder Solidarität durch Passant*innen erfahren. Lediglich 13 % der von Vorfällen betroffenen Befragten erstatteten polizeiliche Anzeige.

Das sogenannte Transsexuellengesetz hat viel Leid gebracht, an diesem Gesetz kleben Blut und Tränen. Es hat lange Zeit verlangt, dass transgeschlechtliche Menschen ihre Ehe scheiden und sich zwangssterilisieren lassen mussten. In insgesamt sechs Einzelentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht große Teile dieses Gesetzes für grundgesetzwidrig erklärt. Der Europarat hat bereits 2015 in einer Resolution die Mitgliedsstaaten aufgefordert, zur Wahrung der Menschenrechte von transgeschlechtlichen Menschen, Verfahren zu schaffen, die ohne psychiatrische Zwangsbegutachtung auskommen. Zahlreiche Europäische Länder haben das bereits umgesetzt, wir holen das jetzt mit dem Selbstbestimmungsgesetz nach.

Das Verfahren nach dem sogenannten Transsexuellengesetz ist demütigend, es ist teuer, es belastet unsere Gerichte und es ist vor allem langwierig. Das führt dazu, dass sich transgeschlechtliche Menschen in diesem Verfahren über einen längeren Zeitraum nahezu täglich erklären und rechtfertigen müssen - und das in für andere Menschen völlig selbstverständlichen Alltagssituationen. Zum Beispiel wenn sie einen Mobilfunkvertrag oder eine Versicherung abschließen wollen, bei Verkehrs- und Fahrscheinkontrollen, wenn sie einen Leihwagen buchen oder im Hotel einchecken, wenn sie eine Wohnung mieten oder ein Bankkonto eröffnen wollen usw. Auch intergeschlechtliche Menschen brauchen nach geltende Rechtslage ein „ärztliches Attest“, um den ihnen falsch zugewiesenen Geschlechtseintrag korrigieren zu dürfen.

Die geschlechtliche Identität kann nicht diagnostiziert werden. Deswegen kann letztlich nur jeder Mensch selbst darüber Auskunft geben. Die Frage, welchem Geschlecht sich ein Mensch zugehörig empfindet, ist als Teil der Privatsphäre verfassungsrechtlich geschützt. Dies folgt aus der Achtung der Menschenwürde und dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Jede Person kann daher von den staatlichen Organen die Achtung dieses Bereichs verlangen. Das schließt die Pflicht ein, die individuelle Entscheidung eines Menschen über seine Geschlechtszugehörigkeit zu respektieren.

Die seit einiger Zeit geführte Diskussion um das Selbstbestimmungsgesetz thematisiert zum Teil legitime Fragen, wie sie sich im Kontext neuer rechtlicher Regelungen immer stellen. Allerdings wird die Diskussion von manchen Kreisen auf Grundlage von Vorurteilen und mit diskriminierenden Zuschreibungen geführt, was unbegründete Ängste und Zweifel schürt.

Gewaltschutz von Frauen gilt ohne Wenn und Aber. Frauen müssen sich sicher und diskriminierungsfrei im öffentlichen Raum bewegen können. Das schließt selbstverständlich alle Frauen ein, egal ob sie hetero, lesbisch, bi, trans, oder cis sind. In Schulen, Sportvereinen, Schwimmbädern und ebenso wie in Einrichtungen für Geflüchtete oder Obdachlosenunterkünften sind Angebote so zu gestalten, dass allen Frauen Gewaltschutz gewährleistet wird.

Gerade transgeschlechtliche Frauen sind mehrfachen Diskriminierungen und auch sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Was diese Personengruppe vorrangig braucht, ist unsere Unterstützung und keine Versuche, sie von Schutzangeboten auszuschließen. Die Regelung des Zugangs zu Frauenhäusern wird sich durch das Selbstbestimmungsgesetz ohnehin nicht ändern. Es bleibt dabei, dass die Häuser das selbst regeln. Viele Frauenhäuser sprechen sich explizit für den Schutz von trans* Frauen aus und passen ihre Angebote entsprechend an. Die Aufnahme in ein Frauenhaus wird immer im Einzelfall von den Fachexpertinnen vor Ort entschieden. Fälle, in denen die Angebote von Schutzräumen missbräuchlich genutzt wurden, sind nach Angaben der Frauenhauskoordinierung nicht bekannt.

Die Sorge einer übereilten Entscheidung von Jugendlichen, ihren Geschlechtseintrag und Vornamen zu ändern, ist realitätsfremd. Kein transgeschlechtlicher Mensch unternimmt solche gravierende Veränderungen unüberlegt oder „aus Spaß“. Das bestätigen Erkenntnisse aus den Ländern, wo bereits seit Jahren transgeschlechtliche Menschen unbürokratisch ihren falschen Geschlechtseintrag berichtigen dürfen. Die wachsende Zahl offen lebender transgeschlechtlicher Jugendlicher ist auf Enttabuisierung und Sichtbarkeit des Themas und die langsam steigende Akzeptanz zurückzuführen.

In Bezug auf den Bereich Sport ist darauf hinzuweisen, dass über die Zulassung zu sportlichen Wettbewerben die Sportverbände in eigener Zuständigkeit entscheiden. Das ändert sich nicht durch das Selbstbestimmungsgesetz.

Mit freundlichen Grüßen

Canan Bayram

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