Wie geht die Gesamtheit der IPCC Szenarien in Ihre politische Arbeit ein ?

Portrait von Canan Bayram
Canan Bayram
Bündnis 90/Die Grünen
88 %
57 / 65 Fragen beantwortet
Frage von Hendrik S. •

Wie geht die Gesamtheit der IPCC Szenarien in Ihre politische Arbeit ein ?

Sehr geehrte Frau Bayram,

ich verstehe und begrüße, dass "das 1,5° Szenario" den Kern der politischen Arbeit von B90/Grüne bildet auf dem Gebiet des Klimaschutzes. Meiner Frage liegt die Einsicht zugrunde, dass das Szenario lediglich eines von mehreren ist. Wie das System Erde letztlich reagieren wird, ist alles andere als sicher: es kann sein, dass die heute empfohlenen Veränderungen zum Erreichen des zukünftigen 1,5°-Ziels nicht genügen. Es kann sein, dass die politischen Maßnahmen die beabsichtigte Verhaltensänderung nicht (oder nicht vollständig) erzielen. Es besteht also eine nicht-triviale Wahrscheinlichkeit einer Erderwärmung über 1,5° hinaus bis hin zu "hothouse earth" — und alles über 1,5° wird uns, meinem Verständnis nach, in Deutschland mehr Veränderung und mehr Last abverlangen, als die für 1,5° nötige Energierevolution. Wie berücksichtigen Sie diese Zukunftsszenarien in Ihrer poltischen Arbeit heute — sei es Abwehr der Folgen oder Vorbereitung auf den Umgang mit ihnen ?

Portrait von Canan Bayram
Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Guten Tag,

vielen Dank für Ihre Frage. 

Grundlage GRÜNER Politik ist das Klimaabkommen von Paris. Der Bericht des IPCC zum 1,5-Grad-Limit verdeutlicht, dass jedes Zehntelgrad zählt, um das Überschreiten gefährlicher Kipppunkte im Klimasystem zu verhindern. Es ist notwendig, schnellstmöglich auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Dafür kämpfen wir.

Doch die Ausgangslage ist schwierig. Denn Klimaschutz braucht enormen Vorlauf und die nötigen Weichen wurden in den vergangenen Jahren unter den Regierungen Merkel einfach nicht gestellt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde abgewürgt, der Kohleausstieg auf die lange Bank geschoben, in der Verkehrspolitik weder die Antriebs- noch die Verkehrswende vorangetrieben und im Gebäudebereich die notwendigen Sanierungsraten nicht erreicht.

Deshalb setzen viele Szenarien, die sich auf das Ziel der Treibhausgasneutralität deutlich vor 2045 beziehen, entweder auf enorme Negativemissionen in Form von technischen Senken wie etwa CCS (Carbon Capture and Storage) oder wollen Emissionen, die dann noch entstehen, in anderen Ländern kompensieren. Technologien wie CCS sind teuer, bergen enorme Risiken für Mensch und Umwelt und die vorhandene Speicherkapazität ist wenn überhaupt vorhanden, sehr begrenzt. Auch der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur ist nicht annähernd in Sicht. All diese Überlegungen zur Speicherung von CO2 sind derzeit nicht viel mehr als ein theoretisches Konzept, dessen Wirksamkeit sich überhaupt erst noch erweisen müsste. Das ist eine unseriöse Wette auf unsere Zukunft. Darauf wollen wir nicht setzen, genauso wenig wie auf eine Kompensation von verbleibenden Emissionen in anderen Ländern. Denn dafür müsste sichergestellt sein, dass wirklich zusätzliche Emissionen in anderen Ländern erreichen würden, also Doppelanrechnungen sicher ausgeschlossen und die Projekte insgesamt auch umweltverträglich wären. Erfahrungen mit ähnlichen Projekten aus der Vergangenheit (wie etwa der Clean Development Mechanism, CDM) waren enttäuschend und haben das erhebliche Missbrauchs-und Betrugspotenzial solcher Ansätze aufgezeigt.

Wir stehen für seriöse Klimaschutzmaßnahmen, die jede Tonne CO2 in Deutschland ganz real einspart und die ohne Rechentricks funktionieren. Unsere Maßnahmen orientieren sich daran, wie wir so schnell und effektiv wie möglich den größten Klimaschutzeffekt erreichen können und zwar ohne dass es gleichzeitig zu sozialen und auch wirtschaftlichen Verwerfungen kommt. Was und wieviel genau eine Klimaschutzmaßnahme in der Zukunft wirklich bringt, kann immer nur über Projektionen auf Basis von Annahmen über zukünftige Entwicklungen gemacht und abgeschätzt werden. Je nach getroffener Annahme ist eine Maßnahme mal mehr, mal weniger wirksam. Entsprechend unterschiedlich können Bewertungen ausfallen, ob und inwieweit eine Klimaschutzpolitik mit dem 1,5 Grad Pfad vereinbar ist oder nicht. Genau kann man das aber immer erst nach Umsetzung der Maßnahmen sehen. Deshalb ist es so wichtig, wie im Klimaschutzgesetz vorgesehen, zeitnah die Emissionsentwicklung in den einzelnen Sektoren zu verfolgen, damit rechtzeitig nachgesteuert werden kann, wenn eine Zielverfehlung erkennbar wird.

Zudem gibt ist auch bei der Berechnung des verbleibenden CO2-Budgets zur Einhaltung des 1,5 Grad Limits unterschiedliche Annahmen, die man berücksichtigen muss. Denn wie viel Budget der Menschheit tatsächlich noch zur Verfügung steht, hängt neben dem Temperaturlimit maßgeblich davon ab, mit welcher Sicherheit dieses Limit am Ende erreicht werden soll und zu welchem Zeitpunkt es festgelegt wurde. Bei einer sehr hohen Sicherheit, d.h. einer Wahrscheinlichkeit von 95% wird das Budget entsprechend klein. Bei einer geringeren Sicherheit von „nur“ 50 %, wird das Budget entsprechend größer. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat, wie einige andere auch, den 01.01.2016, also die Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens als Startpunkt genommen und dann das global noch verbleibende Budget an CO2 pro Kopf auf alle Menschen gleichmäßig verteilt. Genauso gut könnte man auch die historische Verantwortung der Industriestaaten mit berücksichtigen, indem man die bereits seit der Industrialisierung in die Atmosphäre abgegeben Emissionen mit einbezieht. Nach einer solchen Rechnung wäre Deutschland längst „CO2 insolvent“, da bei dieser Betrachtung überhaupt kein CO2-Budget mehr zur Verfügung stünde. So hatte es der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) schon 2009 in seinem Gutachten zum „Budgetansatz“ berechnet.

Um den 1,5 Grad Pfad zu erreichen, müssen wir also in Deutschland selber so schnell wie möglich die Treibhausgasneutralität aus eigener Kraft erreichen und zusätzlich auch international handeln. Dies tun wir, indem wir insbesondere Schwellen- und Entwicklungsländer z.B. in Form von Klimapartnerschaften auf Augenhöhe dabei unterstützen gleich auf CO2 – freie Verfahren zu setzen und auf einen fossilen Umweg zu verzichten, allerdings ohne dies mit Rechentricks auf unsere eigenen Minderungsziele anzurechnen! Gerade Deutschland als einer der historischen Hauptemittenten von Klimagasen hat hier eine besondere internationale Verantwortung dafür, dass andere nicht den gleichen falschen Umweg über die Klimazerstörung nehmen. Unser Grünes Klimaschutzprogramm ist so voll vereinbar mit dem Pariser Klimaabkommen und einem 1,5 Grad-Pfad.

Mit freundlichen Grüßen

Canan Bayram

Was möchten Sie wissen von:
Portrait von Canan Bayram
Canan Bayram
Bündnis 90/Die Grünen