Frage an Florian Toncar bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

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Florian Toncar
FDP
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Frage von Markus H. •

Frage an Florian Toncar von Markus H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrter Herr Toncar,

Bei meinen Recherchen zum o.g. Vertragswerk bin ich auf folgende Fragen gestoßen, die ich gerne an Sie als Juristen und Mitglied des EU-Ausschusses weitergeben möchte:

1. Besetzung des EuGH
Im Art. 20 GG steht, dass die vom Volke ausgehende Staatsgewalt u.a. durch die Rechtsprechung ausgeübt wird.
Bei der Besetzung des BVG wird diesem Artikel Rechnung getragen, indem die Hälfte der Verfassungsrichter vom Bundestag ernannt werden. Die andere Hälfte wird vom Bundesrat ernannt. An der Zusammensetzung des BVG sind also immerhin 16 Länderregierungen und ca. 600 Volksvertreter beteiligt.
Der Vertrag von Lissabon sieht für die Besetzung des Europäischen Gerichtshofes vor, dass die Mitglieder des Gerichts „von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt werden.“
Die Exekutive setzt also Vertreter der Judikative ein.
Widerspricht das nicht der im GG definierten Volkssouveränität und dem Prinzip der Gewaltenteilung ?

2. Schutz der Menschenwürde
Wie im GG gilt in der EU-Grundrechtecharta die Menschenwürde als unantastbar.
Während das GG hinzufügt „Sie (die Menschenwürde) zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“, heißt es in der Charta schlicht: „Sie ist zu achten und zu schützen“.
Laut GG der BRD müssen die Staatsgewalten demnach die Menschenwürde des Einzelnen garantieren.
Diese Garantien sucht man in der Charta vergeblich.

Macht die BRD, wenn der Vertrag von Lissabon rechtskräftig wird, nicht einen Rückschritt hinter das Grundgesetz?

Für die Mühe, die sie sich machen um meine Fragen zu beantworten bedanke ich mich bereits jetzt sehr herzlich!

Gruß
Markus Helmreich

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Antwort von
FDP

Sehr geehrter Herr Helmreich,

vielen Dank für Ihre Frage, die ich wie folgt beantworte:

Zu 1)
Es stimmt, dass Richter am EuGH von den Regierungen der Mitgliedsstaaten ernannt werden. Das bedeutet aber nicht, dass die von ihnen ausgehende rechtssprechende Gewalt nicht vom Volke ausginge. Denn die Regierungen der Mitgliedsstaaten, die die Richter ernennen, sind ihrerseits durch demokratische Wahlen vom Volk legitimiert. Es genügt also die Legitimationskette Parlament-Regierung-Richter am EuGH. Alle Teile dieser Kette üben direkt oder mittelbar vom Volk ausgehende Staatsgewalt aus.
Art. 20 Abs. 2 GG verlangt also nicht, dass jede Staatsgewalt vom Parlament selbst ausgeübt bzw. eingesetzt werden muss. Auch eine demokratisch legitimierte Regierung kann Staatsgewalt einsetzen. Sonst könnte kaum noch ein Beamter ernannt werden. Auch bei der Bestellung von Richtern innerhalb Deutschlands entscheidet in der Praxis die Justizverwaltung, insbesondere in den unteren Instanzen. Man kann das Verfahren der Richterernennung innerhalb Deutschlands und auch in Europa kritisieren und Reformen fordern. Ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 GG liegt aber keinesfalls vor.

Zu 2)
Der Unterschied in der Fassung von Grundgesetz und EU-Grundrechtecharta, den Sie anführen, ist marginal. Er besteht letztlich darin, dass das Grundgesetz "alle staatliche Gewalt" zum Schutze der Menschenwürde verpflichtet, während die Grundrechte-Charta den Begriff "staatliche Gewalt" als Adressat der Verpflichtung vermeidet. Das ist darauf zurückzuführen, dass die EU kein Staat ist, sondern eine supranationale Organisation eigenen Ursprungs, so dass die Referenz auf staatliche Gewalt schlicht falsch gewesen wäre. Inhaltlich gewährleisten sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der EuGH die Menschenwürde. Selbst wenn das Grundgesetz Ihnen in einzelnen Fällen mehr Grundrechtsschutz zukommen ließe als die Grundrechtecharta, wäre das nicht schlimm. Denn für die deutsche Staatsgewalt gilt das Grundgesetz weiterhin uneingeschränkt. Die Grundrechtecharta schützt Sie also nicht anstelle des Grundgesetzes, sondern zusätzlich zum Grundgesetz. Das ist ein Fortschritt und kein Rückschritt.

Mit freundlichen Grüßen

Florian Toncar

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