Frage an Rüdiger Kruse bezüglich Wirtschaft

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Rüdiger Kruse
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Frage von Oliver S. •

Frage an Rüdiger Kruse von Oliver S. bezüglich Wirtschaft

Sehr geehrter Herr Kruse,

zunächst einmal möchte ich mich für ihr Abstimmungsverhalten beim Thema AKWs bedanken. Ihr NEIN zur Laufzeitverlängerung respektiere ich.

ich habe im Internet einen Vortrag zum Thema Systemkrise/ESM/Finanzsystem gesehen, bei dem es mir jetzt darum geht, etwas über ihre Position dazu zu erfahren. (Ich weiß, der Vortrag ist etwas länger und Andreas Popp schweift auch immer mal wieder ab). Trotzdem ist der Vortrag ja dazu geeignet, Position zu beziehen und deutlich diesem Tenor zuzustimmen oder ihn abzulehnen.

www.youtube.com/watch?v=1rvPPxnITzU&feature=BFa&list=PLE4FF92FB5C45728C

Mir geht es darum, inwieweit sie den Thesen zustimmen können, dass...
(a) ... Politiker/der Staat in einem Korsett von Abhängigkeiten (Geschäftsbanken, Privatwirtschaft) agieren,
(b) ... es eine wirtschaftliche bzw. finanzielle Umverteilung von den Fleißigen zu den Reichen gibt, die durch das System begünstigt wird und
(c) ... der ESM in der im Einspielfilm kritisch dargestellten Form so gewollt sein kann oder bekämpft werden muss. (kurzer Einspielfilm, beginnt bei 1:32:20 - 1:36:08h)
(d) ... die Zinsen in unserem Wirtschaftssystem Probleme verursachen und man über das langfristige Abschaffen der Zinsen nachdenken müsse.

Ich kann mir vorstellen, dass der Vortrag lang und die Fragen zu komplex für eine kurze bzw. schnelle Antwort sind, möchte sie aber trotzdem anschreiben, um zu verstehen, wie ihre Position als Bundestagsabgeordneter und Vertreter meines Wahlkreises dazu ist.
Ich möchte mir eine Meinung zu dem Thema bilden und ihre konkrete Meinung zu den inhaltlichen Positionen aus dem Vortrag (die Abschweifungen des Vortrags in andere Bereiche oder die Vortragsweise sind mir egal...).

Vielen Dank schonmal im Voraus für ihre Arbeit
Mit freundlichen Grüßen
Oliver Sinhart

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Sehr geehrter Herr Sinhart,

vielen Dank für Ihre Frage bei abgeordnetenwatch zu dem Thema ESM und der damit verbundenen Lage des Euros.

Vorweg bedanke ich mich zudem bei Ihnen für Ihre netten Worte zu meinem Abstimmungsverhalten bei der Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke, gegen die ich im Herbst 2010 gestimmt habe.

Zu Ihren Thesen kann ich die folgenden Antworten geben.

a) Dazu lässt sich sagen, dass politische Entscheidungen nie im luftleeren Raum getroffen werden. In jedem Entscheidungsfindungsprozess kommen unterschiedliche Meinungen zusammen, jeder versucht den anderen mit seinen Argumenten zu überzeugen. In der Demokratie steht am Ende in der Regel ein Kompromiss, mit dem alle Beteiligten zufrieden sein können. Dass Politiker in einem Korsett der Abhängigkeiten von Geschäftsbanken und der Privatwirtschaft agieren, kann ich nicht bestätigen. Unternehmen und Institutionen aus diesen Bereichen versuchen natürlich, mithilfe von Lobbyarbeit, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen. Allerdings sind ebenso Organisationen, wie Gewerkschaften, Greenpeace, der Bund der Kaninchenzüchter oder die Deutsche Gesellschaft für das Badewesen daran interessiert. Man kann sich alle Standpunkte und Argumente anhören, am Ende treffen wir Abgeordnete unsere Entscheidung dann aber nach Gewissen.

b) Diese These wird immer wieder aufgegriffen und scheint sehr populär zu sein, weil sie, was eine These kennzeichnet, auf Verknappung und Vereinfachung zielt. Allerdings würde ich mir hier eine größere Differenzierung wünschen. Ihre These impliziert nämlich, dass ein Fleißiger grundsätzlich arm und ein Reicher grundsätzlich faul sei. Aber was bedeuten diese Begriffe eigentlich? Was ist Fleiß und Faulheit und wie definiert man dies. Letztlich sind dies Begriffe, die nur individuell zu beantworten sind. Die Einteilung in „arm“ und „reich“ erscheint hingegen etwas einfacher. Relativ arm sind die Menschen, denen weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht. Allerdings sind viele Experten der Ansicht, dass diese Definition von Armut zu wenig aussagekräftig sei. Nur ein Indikator, in diesem Fall das Einkommen, so die Kritik, sei nicht ausreichend, um Armut zu definieren. Auch Reichtum ist bisher nicht ausreichend definiert. Ist jemand, der eine Millionen Euro besitzt, bereits reich? Viele Menschen würden dies wahrscheinlich bejahen. Aber welchen Status hat dann jemand, der Immobilien im Wert von einer Milliarde Euro besitzt? Aufgrund mangelnder Definitionen ist es daher schwierig, eine solch weitgefasste These zu befürworten oder diese zu widerlegen. Grundsätzlich würde ich sie allerdings, aufgrund der populistischen Formulierung, eher ablehnen.

c) Der Einspielfilm stellt den ESM in einer etwas reißerischen Weise dar, die in Teilen nicht der Wahrheit entspricht und mit Verkürzung und ohne Erläuterungen eher desinformiert.
Das Grundkapital von 700 Milliarden Euro des ESM setzt sich folgendermaßen zusammen: 80 Milliarden Euro sind einzuzahlendes Kapital der Mitgliedsstaaten, das gewissermaßen als Sicherungsreserve vorhanden sein muss und weitere 620 Milliarden Euro sind abrufbares Kapital. Die Finanzierungsanteile der einzelnen Mitgliedstaaten ergeben sich aus ihrem Anteil am Kapital der EZB, mit befristeten Übergangsvorschriften für einige neue Mitgliedstaaten. Der deutsche Finanzierungsanteil am ESM beträgt entsprechend dem EZB-Schlüssel 27,15%. Dies entspricht rund 22 Milliarden Euro an eingezahltem und rund 168 Milliarden Euro an abrufbarem Kapital. Der deutsche Kapitalanteil wird in fünf Raten eingezahlt. Die ersten beiden Raten werden bereits im Jahr 2012 eingezahlt, zwei weitere folgen in 2013. Die Zahlung der letzten Rate ist für 2014 vorgesehen.
Auch bei der Sieben-Tages Frist ist der Film eher populistisch, denn an der Realität interessiert. In Artikel 9, Absatz 3, heißt es im ESM-Vertrag tatsächlich: „Die ESM-Mitglieder verpflichten sich unwiderruflich und uneingeschränkt, Kapital, das der Geschäftsführende Direktor gemäß diesem Absatz von ihnen abruft, innerhalb von sieben Tagen ab Erhalt der Aufforderung einzuzahlen.“ Dieser Passus bezieht sich ausschließlich auf bereits genehmigtes, aber noch nicht eingezahltes Kapital, welches jedoch bereits durch die nationalen Parlamente bzw. Regierungen zugesagt wurde. Eine eigenständige ad-hoc-Vergabe, ohne Billigung der nationalen Parlamente, ist nicht möglich.
Auch die Behauptung, dass eine Erhöhung des Grundkapitals mit Artikel 10 jederzeit möglich sei und der ESM beliebig nachfordern könne, ist falsch. Es ist vorgesehen, dass das maximale Darlehnsvolumen und die Angemessenheit des Stammkapitals regelmäßig überprüft werden. Änderungen müssen einstimmig im Gouverneursrat getroffen werden. Dort vertritt unser Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble die Bundesrepublik. Deutschland hat sich, aufgrund eines guten Verhandlungsgeschicks unserer Regierung, ein Vetorecht innerhalb des Gouverneurrates gesichert. Bei einem solchen Beschluss, der das Grundkapital betrifft, wäre die haushaltspolitische Verantwortung des Deutschen Bundestages betroffen, sodass die Abgeordneten ihr positives Votum geben müssten. Geben wir es nicht, dann ist unser Vertreter im Gouverneursrat verpflichtet mit Nein zu stimmen. Dies konnten wir Abgeordnete gesetzlich verankern. Deutschland ist nicht bedingungslos und unwiderruflich verpflichtet zu zahlen, wie es in dem Einspielfilm propagiert wird.
Bei der erwähnten Immunität, die im Rahmen einer Ausübung im ESM geregelt ist, handelt es sich um einen regulären Vorgang, der im internationalen Bereich üblich ist. Die Tätigkeit des ESM beinhaltet, z. B. bei der Privatsektorbeteiligung, äußerst komplexe rechtliche Vorgänge, welche regelmäßig auch mit juristischen Risiken behaftet sind. In der Regel handelt es sich um Immunitäten im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Organisation. Handlungen der Bediensteten sind folglich nur dann geschützt, wenn sie amtlicher Natur sind. Allerdings sind für die Spitze der Organisationen, also z. B. den Präsidenten, teilweise weitergehende Immunitäten vorgesehen. Diese Immunitäten entsprechen den Immunitäten, die Diplomaten im zwischenstaatlichen Verkehr zukommen. Der Gouverneursrat des ESM, in dem die Finanzminister der Mitgliedstaaten der Eurozone vertreten sind, bzw. der Geschäftsführende Direktor, können die Immunität der Amtsträger und Bediensteten bei Bedarf aufheben. Vergleichbare Regelungen gelten u.a. für den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank sowie regionale Entwicklungsbanken wie z.B. die Afrikanische Entwicklungsbank (AfDB) und die Asiatische Entwicklungsbank (ADB). Zudem wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 12. September 2012 festgelegt, dass die Regelungen im ESM-Vertrag zur Immunität, zur beruflichen Schweigepflicht und zur Unverletzlichkeit der Unterlagen des ESM einer umfassenden Unterrichtung von Bundestag und Bundesrat nicht entgegenstehen. Selbst bei besonderer Vertraulichkeit von Informationen muss ein Sondergremium des Bundestages unterrichtet werden. Dieses stellt klar, dass die Immunität und Verschwiegenheitspflicht der ESM-Mitarbeiter der umfassenden Unterrichtung der nationalen Parlamente gemäß den nationalen Vorschriften nicht entgegenstehen. Die parlamentarische Beteiligung ist gewährleistet

d) Ich glaube auch nicht, dass die Zinsen die hauptsächlichen Ursachen für die aktuellen Krisensymptome sind. Die Probleme, die zu der turbulenten Lage des Euros geführt haben, waren die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einiger Euro-Staaten, grundlegende Fehler in der Konstruktion der Währungs- und Wirtschaftsunion, die massive Staatsverschuldung vieler Staaten aber auch ein nicht ausreichender Ordnungsrahmen der Finanzmärkte. So ging mit einer allzu lockeren Geldpolitik eine unvernünftige Expansion des Immobilienmarktes in den USA einher. Auch aufgrund einer Reihe technischer Innovationen, haben sich die Finanzmärkte seit den 1990er Jahren rasant entwickelt. Eine allzu einseitige Politik der Deregulierung hat die Krise mit verursacht, weil die zentrale Erkenntnis der Sozialen Marktwirtschaft missachtet wurde, dass auch die Finanzmärkte, wie alle anderen Märkte, einen ordnenden Rahmen brauchen, um als funktio­nierender Markt erhalten zu bleiben und damit gesellschaftlichen Nutzen stiften zu können. Darauf haben wir in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Maßnahmen im Bereich der haushaltspolitischen Überwachung, neuer wirtschaftspolitischer Steuerung, einer Finanzmarktregulierung und verschiedenen Stabilitätsmechanismen reagiert.

Beste Grüße
Rüdiger Kruse