Frage an Dietmar Bartsch bezüglich Staat und Verwaltung

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Dietmar Bartsch
DIE LINKE
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Frage von Florian A. •

Frage an Dietmar Bartsch von Florian A. bezüglich Staat und Verwaltung

Sehr geehrter Herr Bartsch,

Ich war schon etwas befremdet, Ihre Aussagen zum Wahlprogramm der LINKEN in NRW zu hören.

Auf der einen Seite fand ich die allgemeine Kritik (gerade zum Beispiel in der WAZ wurden kritische Aussagen aller Parteien direkt nebeneinander zitiert!) an diesem Programm nicht angebracht.
Ich denke, viele der im Programm genannten Forderungen sollten für die Zukunft (auch der LINKEN Partei) wegweisend sein. Insbesondere lobend nennen kann man die Abschaffung von Schulnoten, die Abschaffung von Religionsunterricht in der Schule, das „Recht auf Rausch“, sowie die geplante Vergesellschaftung der Energiemonopole RWE und E.ON. (1) Viele dieser Dinge scheinen derzeit in der Tat nicht sofort konsensfähig, aber ihre Einschätzung diese Forderungen seien „außerhalb der Welt“ (2) ist eindeutig nicht realistisch, da es um Themen geht, die viele Menschen in ihrem Alltag betreffen.

Auf der anderen Seite war ihre Aussage, NRW sei zu bundespolitisch zu wichtig, um die Wahl einem an „Kinderkrankheiten“ leidenden Landesverband allein zu überlassen und Berlin würde daher intervenieren, nicht gerade von demokratischem Geist beseelt.

Warum sollte eine Partei nicht ihre Überzeugungen in ihr Wahlprogramm schreiben? Die Koalitionsverhandlungen werden doch erst nach der Wahl geführt.

Werden Sie und der Parteivorstand von Ihren derzeitigen Interventionsplänen ablassen (wie sollten die überhaupt ablaufen) und sich von genannten Aussagen distanzieren?

Wird in Zukunft eine andere Art der Auseinandersetzung mit unliebsamen Landesverbänden geführt werden, selbst wenn dadurch Wahlchancen und etwaige Chancen im Bundesrat verbaut werden?
(Wir haben in Deutschland ja nicht umsonst ein föderalistisches System.)

Mit solidarischen Grüßen,
Florian Augustin

Nachweise:

(1) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,654047,00.html

(2) http://www.derwesten.de/nachrichten/politik/2009/10/8/news-136077211/detail.html

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Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Augustin,

vielen Dank für Ihre E-Mail zum Entwurf des Landes-Wahlprogramms zur Landtagswahl 2010 in Nordrhein-Westfalen und zu Bemerkungen von mir dazu. Sie zeigen sich in Ihrem Schreiben befremdet darüber, dass ich mich zu einigen der im NRW-Wahlprogramm enthaltenen Aussagen kritisch geäußert habe. Ich halte es jedoch durchaus für ein demokratisches Verfahren, wenn ein Entwurf zur innerparteilichen Diskussion vorgelegt wird, dass es dazu aus der Parteimitgliedschaft unterschiedliche Meinungsäußerungen gibt und dass sich auch der Bundesgeschäftsführer an dieser Debatte beteiligen sollte. Hinzu kommt, dass ich mich selbstverständlich äußern muss, wenn mich entsprechende Medien-Anfragen erreichen.

Sie verweisen darauf, dass die von Ihnen genannten Positionen gegenwärtig in der LINKEN offensichtlich so nicht konsensfähig sind. Richtig ist, dass es gegenwärtig in unserer Partei zu solchen Fragen wie „Kopfnoten“ und generell Zensuren in der Schule, Religionsunterricht, Umgang mit Drogen und zur Vergesellschaftungsproblematik unterschiedliche Auffassungen und entsprechende Diskussionen gibt. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn sie Klärungsprozesse voranbringen. Insofern werden diese Diskussionen auch weiterhin innerhalb unserer Partei eine Rolle spielen.

Die Entstehung und Verabschiedung von Wahlprogrammen beinhalten immer auch einen innerparteilichen Auseinandersetzungsprozess. Aber - Wahlprogramme zielen in erster Linie nicht nach innen, sondern sind vor allem dazu da, in einer breiten Öffentlichkeit für die Politik der LINKEN zu werben und Menschen aus den verschiedensten Schichten und Milieus für eine Stimmabgabe zugunsten der LINKE zu gewinnen. Deshalb sollten in unseren Wahlprogrammen vor allem die Probleme und Themen angesprochen, mit Forderungen untersetzt und mit alternativen Vorschlägen angereichert werden, die die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zurzeit besonders bewegen, wie beispielsweise sichere und gute Arbeit, gerechte Sozialpolitik, qualifizierte Bildung für alle, Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung der Landes- und Kommunalpolitik, Ausbau ihrer demokratischen Mitbestimmungs- und Entscheidungsrechte, gesunde Umwelt und Ausbau erneuerbarer Energie, um nur einige zu benennen. Dazu gibt es im NRW-Programm eine ganze Reihe inhaltlicher Aussagen und entsprechende Forderungen.

Leider sind die von Ihnen hervorgehobenen Punkte aus dem NRW-Wahlprogrammentwurf in den Medien sehr einseitig und aus dem Zusammenhang gerissen dargestellt worden. Das lag vielleicht auch daran, dass manche Forderung im Entwurf aus meiner Sicht nicht genügend durchdacht und zu rigoros formuliert wurde und so zu Missverständnissen führen konnte. Drauf zielte meine Kritik. Wenn man sich die Gesamtpassage ansieht, sind die Aussagen durchaus differenzierter getroffen worden. Dennoch bleibt: Grobe Vereinfachungen sollten vermieden werden

Nehmen wir zum Beispiel die Forderung „Abschaffung von Religionsunterricht“, die so absolut im Entwurf nicht zu finden ist. DIE LINKE ist keine Weltanschauungspartei. In ihren Reihen sind auch Christinnen und Christen organisiert. Wir führen keinen Kampf gegen Religionen. Wir sind dafür, dass Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit erhalten, sich Kenntnisse über die unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen anzueignen. Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden ethnischen Vielfalt in unseren Gesellschaften wünschen wir uns ein Schulfach, in dem Raum gegeben ist, interkulturelle Verständigung, wechselseitige Anerkennung und Toleranz einzuüben. Kulturelle Vielfalt soll als Bereicherung erfahren werden. Dazu bedarf es der Integration und der verständigen Auseinandersetzung mit Verschiedenheiten. Dieses Ziel wird am besten erreicht, wenn Schülerinnen und Schüler nicht nach Religionen „auseinanderdividiert“ werden. Alle Schülerinnen und Schüler sollen etwas über Religionen erfahren, die nicht ihre eigenen sind. Deshalb setzen wir uns für ein religiös-weltanschaulich neutrales Schulfach „Ethik“ ein, in dem Schülerinnen und Schüler mit Fragen der Lebensweise, Lebensgestaltung, Werte und Handlungsorientierungen bekannt gemacht werden, in denen sie unterschiedlichen Religionen und Glaubensbekenntnisse kennenlernen und sich damit auseinandersetzen können - und dies nicht nur aus der Sicht einer Religion. Wir wollen nicht grundsätzlich Religionsunterricht abschaffen, sondern werben für ein Pflichtfach Ethik als eine Alternative und Ergänzung zum Religionsunterricht.

Das „Recht auf Rausch“ als „Bestandteil der freien Entfaltung der Persönlichkeit“ zu fordern, klingt sehr radikal. Ich halte diese Verkürzung jedoch für missverständlich und für viele Bürgerinnen und Bürger - die wir als Wählerinnen und Wähler gewinnen wollen - in dieser Form für nicht nachvollziehbar. Die Drogenproblematik ist viel zu komplex und vielschichtig, um sie in solch eine einfache Formel zu bringen. Die Aussagen im Wahlprogrammentwurf sind deshalb auch wesentlich breiter angelegt. Drogenkonsum ist eine Alltagserscheinung in der heutigen Gesellschaft geworden. Legale Drogen wie Alkohol und Zigaretten sind allgegenwärtig. Verbotene Drogen werden trotz Verbot gehandelt und konsumiert. Allen ist klar, dass massiver Drogengenuss zu schweren gesundheitlichen Folgen führt. Die Verbreitung von Suchtmitteln einzuschränken, ist ein vernünftiges gesellschaftliches Ziel. Drogenkonsumenten jedoch schlicht als Kriminelle zu betrachten und wie Kriminelle zu behandeln, verhindert jede sinnvolle Politik auf diesem Gebiet. Dämonisierung und Kriminalisierung von Drogen verfehlen auf jeden Fall das Ziel, die Verbreitung von Drogen einzudämmen und zu verhindern, sondern bewirken gerade das Gegenteil. Deshalb ist DIE LINKE der Auffassung, dass Drogenpolitik zu einer präventiven, sachlichen und glaubwürdigen Aufklärung über Wirkung und Risiken von Drogen beitragen muss. Nur so kann ein verantwortungsbewusster Umgang mit Rauschmitteln erzielt werden. Drogenabhängigen muss medizinisch und therapeutisch geholfen werden jedoch nicht durch Ausbau und Verschärfung der Strafverfolgung. DIE LINKE tritt dafür ein, dass die Kriminalisierung des Drogengebrauchs beendet und eine ausreichende psychosoziale Begleitung und Betreuung von Rauschmittelabhängigen auf freiwilliger Behandlungsgrundlage gesichert wird. Der Abschnitt im Wahlprogrammentwurf lautet: „Für eine vernünftige, tolerante und humane Drogenpolitik.“

Die Forderung nach einer Wende in der Energiepolitik hin zu dezentralen Strukturen und eine Überführung der Energiekonzerne in öffentliche Hand und in demokratische Kontrolle, gehört zu den Grundforderungen unserer Politik, die in erster Linie auf Bundesebene durchzusetzen ist. In NRW demnächst RWE und E.ON. vergesellschaften zu wollen, wäre wohl eine unrealistische Forderung für ein Landeswahlprogramm. Steht so auch nicht im Programmentwurf.

Bei der NRW-Wahl handelt es sich für uns aus bundespolitischer Sicht um eine Schlüsselwahl. Unser Ziel besteht darin, in Fraktionsstärke in ein weiteres Landesparlament einzuziehen. Mehr noch - der Einzug in das Parlament des bevölkerungsreichsten Bundeslandes würde DIE LINKE als politische Kraft in der Bundesrepublik wesentlich stärken. Deshalb werden wir uns als Gesamtpartei auf die Verwirklichung dieses Ziels konzentrieren und unseren Genossinnen und Genossen in NRW tatkräftige Unterstützung und Hilfe leisten.

Dazu gehört natürlich auch, auftretenden Meinungsverschiedenheiten nicht aus dem Weg zu gehen und sich sachbezogen und sachlich zu inhaltlichen Fragen des Wahlprogramms zu äußern. Das hat mit „Interventionsplänen gegenüber unliebsamen Landesverbänden“ nichts zu tun. Wir lassen uns durch einen durchaus kritischen Umgang miteinander nicht auseinanderdividieren. Zu dem Vorwurf, zwischen Bundespartei und Landesverband NRW gäbe es „schwerwiegende Differenzen“, stellte die Sprecherin des Landesvorstandes der NRW-LINKEN, Katharina Schwabedissen, gegenüber der Nachrichtenagentur ddp am 25.10.2009 fest: „Es gibt keine Spaltung zwischen Bundespartei und Landesverband über den Entwurf zum Wahlprogramm. Wir diskutieren und es gibt bei einigen Punkten unterschiedliche Ansichten.“ Wichtig ist, dass letztlich die Partei als Ganzes an einem Strang zieht. Am vergangenen Wochenende tagte der Landesparteitag in NRW und dort wurden in der Beschlussfassung zum Landtagswahlprogramm ja auch mehrere Anregungen, Änderungs- und Ergänzungsvorschläge zum Entwurf aufgegriffen. Die letztendliche Fassung des Programms will der Landesverband in den nächsten Tagen unter http://www.dielinke-nrw.de/ veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen

Dietmar Bartsch

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