Frage an Lothar Binding bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Lothar Binding
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Frage von Michael P. •

Frage an Lothar Binding von Michael P. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Binding,

im September steht die Abstimmung im Bundestag zum ESFS ("Euro Rettung, in Wahrheit Bankenrettung) an.
Angesichts der Aussagen der Parteien ist davon auszugehen, dass das Gesetz mit großer parteiübergreifender Mehrheit verabschiedet werden wird.

Abgesehen davon, dass der Euro seit Einführung eine unendliche Geschichte des Rechts- und Vertragsbruches sowie ökonomischer Unvernunft ist, zeigen die Geschehnisse um dessen Einführung und dessen "Rettung" alle Merkmale einer Oligarchie und sind das Gegenteil von Demokratie.

"Wohlmeinende" Meinungsumfragen zeigen eine Ablehnung der Euro "Rettungsmaßnahmen" von ca. 70% in der Bevölkerung. Realistischere Umfragen liegen bei ca. 85% Ablehnung.

Unter der Annahme, dass Sie zu denjenigen Abgeordneten gehören werden, die dem ESFS zustimmen, bitte ich Sie angesichts der Umfragewerte, mir Ihr Verständnis einer repräsentativen Demokratie zu erläutern.

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SPD

Sehr geehrter Herr Principato,

Sie schreiben zweimal „ESFS“. Im Kontext der Finanzpolitik meinen wir damit das „European System of Financial Supervisors“. Ich vermute, dass Sie die EFSF, die „European Financial Stability Facility“ meinen, auch wenn Ihre Erläuterung „Euro Rettung, in Wahrheit Bankenrettung“ zu kurz greift.

Die Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger, auf die Sie verweisen, sind verständlich, und viele davon teile ich. Deshalb scheint eine Ablehnung schnell plausibel. Allerdings wäre dann zu erklären, was es uns kosten würde, wenn die EFSF nicht beschlossen würde, oder was andernfalls zu tun wäre – Gedanken, die Sie in Ihrer Frage nicht ansprechen. Ich denke dabei nicht nur an Geld. Welch ein Signal wäre eine Ablehnung der EFSF für die Solidarität innerhalb der Eurozone? Innerhalb Europas, ja in der Welt? Eine Absage und die damit verbundene Signalwirkung für die Märkte würde uns mehr kosten, auch mehr Geld, als die jetzt anstehenden Ausgaben.

Mir ist aus Ihren Ausführungen nicht ganz klar geworden, was Sie damit meinen, dass „die Geschehnisse um dessen Einführung und dessen ‚Rettung‘ alle Merkmale einer Oligarchie“ zeigen würden „und das Gegenteil von Demokratie“ seien.

Wenn Sie mit Ihrer Metapher von der „Herrschaft der Wenigen“ meinen, dass viele Spieler auf den internationalen Finanzmärkten – Rating-Agenturen, Banken, Fondsgesellschaften, Analysten, Bankvorstände… – die „Demokratie“, d.h. demokratische Entscheidungsregeln, demokratische Verantwortlichkeit in zunehmendem Maße als Risiko für ihre Geschäfte betrachten, kann ich Sie gut verstehen. Man hat gelegentlich den Eindruck, dass die Märkte immer schnellere, entschlossene, effiziente Entscheidungen fordern – zur Bewilligung von Unterstützungskrediten an notleidende Staaten, zu Konjunktur- und Sparprogrammen, zur Bereitstellung von Haushaltsmitteln; demokratische Grundprinzipien – etwa die parlamentarische Kontrolle von Staatsausgaben, die Überwachung der Regierungstätigkeit, die Verantwortung gegenüber dem Souverän, d.h. den Bürgerinnen und Bürgern – scheinen dabei vielen Finanzmarktakteure eher lästig zu sein. Ich denke etwa daran, dass Entscheidungen angeblich nicht schnell genug getroffen werden, „um die Märkte zu beruhigen“, oder politische Auseinandersetzungen um Sparziele oder Unterstützungsmaßnahmen – ein Kernstück unserer pluralistischen Demokratie – dazu führen, dass die Kreditwürdigkeit eines Landes in Zweifel gezogen wird.

Hier ist die besondere Rolle der deutschen Regierung von Bedeutung. Permanente Ankündigungen und anschließende Kehrtwendungen verunsichern die Märkte, heizen die Spekulation an und machen jede Rettungsmaßnahme viel teurer als ohne solche Zick-Zack-Bewegungen unserer Regierung.

Vielleicht meinen Sie aber auch, dass wenige Politiker gegen den Willen der vielen Bürgerinnen und Bürger handeln. Oder dass wenige Staaten viele andere Staaten oder dass wenige Regierungen viele Parlamente dominieren.

Ich glaube, dass die darin anklingende Schlussfolgerung Umfrageergebnis = Wählerwillen = Handlungsauftrag an die repräsentative Demokratie nicht geeignet ist, um wichtige politische Entscheidungen zu begründen. Allein die Frage lenkt den Gedanken ja schon davon weg, sich zu überlegen, was es kosten würde, die Rettungsmaßnahmen abzulehnen. Solche Umfragen sind eben auch ein Instrument der Manipulation. Immer wenn ich mit Bürgerinnen und Bürgern spreche, wird nach kurzer Zeit deutlich, dass es klüger ist, die Rettungsmaßnahmen zu beschließen – allerdings mit vielen weiteren strukturellen Maßnahmen, denen sich die schwarz-gelbe Regierung noch verweigert. Andererseits wundert es nicht: wer schwarz-gelb gewählt hat, bekommt schwarz-gelbe Politik, und die ist neoliberal.

Das Verständnis, Entscheidungen an Meinungsumfragen auszurichten, ist für mich ein Indikator für eine Fehlentwicklung in unserem politischen System. Meinungsumfragen sind anonym, unpersönlich, unverbindlich, manipulierbar, morgen schon von der nächsten Umfrage überholt… – keine gute Grundlage, um zu erfahren, was „der Bürger“ und „die Bürgerin“ denken. Daran ist „die Politik“ zu einem großen Teil auch selbst schuld, da sich viele Politiker sehr stark an Meinungsumfragen, Talkshows, Schlagzeilen, „Politik-Marketing“, der Vermarktung von Positionen, Programmen und Überzeugungen orientieren. Ich versuche lieber, in persönlichen Gesprächen in Berlin und Heidelberg, aus Mails und Briefen, bei Treffen und Veranstaltungen von Vereinen oder Verbänden, einen Eindruck von der Stimmung und den Erwartungen der Menschen zu gewinnen.

Und auch wenn Meinungsumfrageinstitute methodisch „sauber“ arbeiten und alle sozialwissenschaftlichen Anforderungen an die „Repräsentativität“ ihrer Erhebung erfüllen (etwa eine ausreichend große Zahl Bürgerinnen und Bürgern befragen und ausreichend Sorgfalt bei der Durchführung der Befragung anwenden, zufällige Stichprobe), habe ich große Bedenken hinsichtlich der – leider häufig unkritisch akzeptierten – Grundannahmen. Man sollte vielleicht einmal ernsthaft darüber nachdenken, ob es Sinn macht, politische Themen auf digitale Fragestellungen zu reduzieren, die einfach mit Ja oder Nein zu beantworten sind: Sind Sie für oder gegen europäische Rettungsschirme? Glauben Sie, die Sparanstrengungen Griechenlands können erfolgreich sein? Sind Sie mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung zufrieden?

Ich glaube, man tut sich keinen Gefallen mit dieser Art der Vereinfachung, denn es ist nur eine scheinbare. Wenn die Frage einfach ist, heißt das noch lange nicht, dass auch die Antwort einfach ist; es sei denn, man nimmt Einschränkungen bei der Ernsthaftigkeit, der Ehrlichkeit, der Angemessenheit in Kauf – aber das will ja niemand. Wer – wie die Auftraggeber der Meinungsforschungsinstitute – diesen Zusammenhang kennt und trotzdem damit arbeitet, nimmt in Kauf, dass viele Bürgerinnen und Bürger sich ärgern oder enttäuscht sind, wenn Politiker anders denken, anders entscheiden – dabei ist es doch eigentlich ganz einfach, sie müssten nur das machen, was die Meinungsumfrage sagt.

Die Realität ist meist komplexer und mit vielen Konflikten – zwischen den USA und Europa, zwischen den Industriestaaten und den „emerging economies“, zwischen „Staat“ und „Markt“, zwischen Zentrum und Peripherie in Europa und mit Blick auf Entwicklungsländern, zwischen Finanzmarkt und Steuerzahler… – „angereichert“. Es gibt dabei nicht immer die beste, kostengünstigste, sauberste Antwort, um diese Konflikte aufzulösen; häufig ist man sich im Vorfeld von Abstimmungen und Entscheidungen nicht sicher, welcher Überlegung man folgen soll – auch deshalb, weil sich fast alle etwas anderes überlegen, und dies nicht nur im Parlament oder in der Bevölkerung, sondern auch in den Zeitungen und Nachrichtensendungen, in den Universitäten und Forschungsinstituten, in den Banken und Versicherungen, in anderen Mitgliedstaaten der Eurozone, und natürlich würde keiner aus dieser Liste zugeben, sich geirrt zu haben.

Gerade weil die Realität sehr anspruchsvoll ist und die Folgen unserer Entscheidungen sehr weitreichend sind, ärgert es mich auch, dass die Bundesregierung so tut, als ginge es bei der Unterstützung für notleidende Staaten immer und ausschließlich darum, Geld zu geben. Wir sollten uns viel mehr Gedanken darüber machen, wie wir Strukturen auf den internationalen Finanzmärkten und in der Wettbewerbsfähigkeit von EU-Staaten verändern können; ich denke etwa an die Beseitigung der selbstgewählten Abhängigkeit von Ratingagenturen, an eine dauerhafte und ernsthafte Beteiligung privater Gläubiger an der Entschuldung von Staaten, an eine Trennung von Einlagen- und Investmentbanken (Trennbankensystem), an Beschränkungen für gewisse schädliche Geschäftsmodelle und Anlageprodukte, an eine Besteuerung bestimmter Finanztransaktionen. Leider ist ein Engagement der Bundesregierung für die meisten dieser Aspekte, auf die die SPD-Bundestagsfraktion schon häufig hingewiesen hat, kaum zu erkennen. Und es ist ja auch gar nicht so einfach, das in eine Meinungsumfrage zu fassen…

Und so erklärt es sich, dass wir mit der deutschen Regierung im Allgemeinen sehr unzufrieden sind, aber gleichwohl einzelnen Maßnahmen zustimmen, wenn sie in die richtige Richtung weisen oder Teillösungen vorbereiten.

Deshalb werde ich der Errichtung der European Financial Stability Facility (EFSF) zustimmen, weil der grundsätzliche Gedanke der Solidarität und Verantwortung für Europa richtig ist. Der Weg, der durch die Schaffung des EFSF eingeschlagen wird, stärkt Europa – hoffentlich nachhaltig – und hilft, den Gefahren der Finanzmärkte entgegen zu wirken, auch wenn die Verursacher nicht gebührend an den Kosten der Krise beteiligt werden. Diese Aufgabe gilt es noch zu erledigen.

Mit freundlichem Gruß,
Lothar Binding