Frage an Anke Domscheit-Berg bezüglich Europapolitik und Europäische Union

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Anke Domscheit-Berg
DIE LINKE
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Frage von Simon.R M. •

Frage an Anke Domscheit-Berg von Simon.R M. bezüglich Europapolitik und Europäische Union

Ich möchte Ihnen ein Zitat aus einem Bericht mitsenden:
"Möglich sei das, weil EU-Ausländern das Geld auch für Kinder zustehe, die gar nicht in Deutschland, sondern noch im Heimatland leben".
Quelle hierfür ist dieser Bericht:

http://www.berliner-zeitung.de/politik/zuwanderung-kindergeld-fuer-rumaenen-wird-nicht-gekappt,10808018,25767376.html

Finden Sie es richtig, dass Kindergeld bezahlt wird, an Kinder die gar nicht in Deutschland leben?
Kann daraus nicht schnell ein Geschäftsmodell entstehen, zumal das Verdienstniveau in Polen, Rumänien, Bulgarien usw. viel geringer ist?

Trotz neuer Arbeitsplätze in 2014, sollen laut "Denkfabrik der BA" nur 37.000 an Jobsuchende gehen.
Laut diesem Bericht ist eine der Hauptursachen, dass sich die Arbeitgeber lieber mit Personal aus anderen EU-Staaten bedienen:
http://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/roundup-arbeitsmarktforscher-auch-2014-kein-neuer-job-boom_aid_1114446.html

Ist das kein Armutszeugnis?

Auch werden Kinder offensichtlich ausgebeutet und verramscht:

http://www.focus.de/politik/ausland/tid-34412/report-verramscht-und-ausgebeutet-kinder-als-ware_aid_1140728.html

Das soll also gut sein? Ich denke, auf so eine Art von Freizügigkeit könnten viele Bundesbürger verzichten.
Warum befragt die Politik nicht das Volk, ob es das "Grundrecht" Freizügigkeit und die Aufnahme weiterer Länder in die EU überhaupt möchte?

Auszug aus einem n-tv-Artikel:

Die Zahl der Arbeitslosen ist der DIW-Studie zufolge bei fast allen Fachkräften höher als die Zahl der offenen Stellen. Lediglich in einigen wenigen Berufen sieht die Untersuchung tatsächlich Hinweise auf eine echte Knappheit in der Arbeitslosenstatistik. Das sind im Einzelnen Vulkaniseure und Elektroinstallateure sowie Ärzte und Krankenschwestern.

Quelle hierfür: http://www.n-tv.de/wirtschaft/Die-Maer-vom-Fachkraeftemangel-article3833126.html

Wie möchten Sie das ändern?

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Antwort von
DIE LINKE

> Finden Sie es richtig, dass Kindergeld bezahlt wird, an Kinder die
> gar nicht in Deutschland leben? Kann daraus nicht schnell ein
> Geschäftsmodell entstehen, zumal das Verdienstniveau in Polen,
> Rumänien, Bulgarien usw. viel geringer ist?

ANTWORT

Guten Tag Hr. Meier

Ihre erste Frage scheint aus einer bestimmten Sichtweise heraus gestellt.
Ich möchte Ihnen antworten, indem ich eine andere Sichtweise anbiete:

Stellen Sie sich vor, sie haben ein Kind, das Sie über einen bestimmten Zeitpunkt hier in Deutschland aufziehen. Da es aber neue Kulturen kennen lernen will, zieht es Ihr Kind zu einem Auslandsschuljahr nach Frankreich oder später für sein Studium nach Spanien.

Nach jetziger Rechtsprechung würden Sie als erziehungsberechtigte Person für den betreffenden Zeitraum Kindergeld erhalten, wobei eine Erklärung dafür ist, dass Sie als Elternteil vermutlich auch dann Kosten für das Kind haben, wenn sich Ihr Kind im Ausland aufhält.

Finden Sie das gut? Finden Sie das nicht gut?

Die Frage ist also: wollen wir ein Kindergeld generell nur für Kinder zahlen, während sie im Inland wohnen - ja oder nein? Meine Antwort darauf ist ein nein - Kinder bleiben Kinder und verursachen Kosten, egal wo sie leben. Der Normalfall ist eine Familie, in der Eltern und Kinder im gleichen Land leben. Eine Trennung erfolgt in den sonstigen Fällen in der Regel aus Not oder aus anderen guten Gründen. Ich halte das aktuelle System für sozial. Wo eine Trennung aus Not erfolgt, sollten wir darauf hin arbeiten, die Not als eigentliche Ursache zu beseitigen. Ich glaube nicht, dass Eltern besonders gern und damit oft ihre Kinder hergeben, nur um einen Geldvorteil zu erhalten. Würden Sie sich für ein paar Euro von Ihren Kindern länger trennen wollen? Jemand in Ihrer Bekanntschaft oder Verwandtschaft? Ich bin sicher, wir reden hier von seltenen Einzelfällen.

>
> Trotz neuer Arbeitsplätze in 2014, sollen laut "Denkfabrik der BA"
> nur 37.000 an Jobsuchende gehen. Laut diesem Bericht ist eine der
> Hauptursachen, dass sich die Arbeitgeber lieber mit Personal aus
> anderen EU-Staaten bedienen:
> http://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/roundup-arbeitsmarktforscher-auch-2014-kein-neuer-job-boom_aid_1114446.html
>
> Ist das kein Armutszeugnis?

ANTWORT:

Der Wettbewerbsdruck und die "Geiz ist geil" Mentalität vieler Konsumenten (oft erzwungen durch schlechte Löhne oder Abhängigkeit von Hartz IV) verleitet Unternehmen dazu, mit möglichst niedrigen Personalkosten zu arbeiten. Ein gesetzlicher Mindestlohn ist ein Mittel um der Abwärtsspirale im Lohnniveau entgegenzutreten und dafür zu sorgen, dass nicht die Armen (hier: Arbeitslose deutscher Nationalität) gegen die Ärmsten ( hier: Arbeitslose anderer EU-Länder) ausgespielt werden. Ein gesetzlicher Mindestlohn muss natürlich richtig konzipiert sein, da er sonst kontraproduktiv wird. Eine europaweit abgestimmte Regelung würde jedoch dafür sorgen, dass dieses Armutszeugnis kein Dauerzustand bleibt. Fakt ist in jedem Fall, dass die Reallöhne in Deutschland sich sehr viel schlechter entwickelt haben als in anderen europäischen Ländern und, dass Jobs bei uns überhaupt nur deshalb entstanden oder geblieben sind, weil in Deutschland schlechter bezahlt werden durfte als anderswo. Das macht unsere Arbeitsplätze billiger als woanders, die hergestellten Produkte damit auch billiger als in anderen Ländern - und das wiederum ist der Grund für unseren extrem hohen Exportüberschuss. Unser mit Abstand größter Exportanteil geht übrigens in andere EU-Länder, was dort von Deutschland importiert wird, wird natürlich dort nicht mehr selbst hergestellt. Die Arbeitsplätze dort sind weggefallen, bei uns sind sie geblieben. Es ist daher wenig überraschend, dass es von dort Jobsuchende gibt, die nach Deutschland kommen, um wenigstens überhaupt eine Arbeit zu haben. Ein Arbeitgeber wird dabei auch auf Qualifikation schauen, in dem erwähnten Artikel stand ja auch, dass es sich um besonders hochqualifizierte Einwanderer handelt. Das ist ein Gewinn für unser Land und ein Verlust für deren Herkunftsländer. Ursächlich ist natürlich auch die Wirtschafts- und Finanzkrise, die zu unmöglichen Zuständen in einigen europäischen Ländern geführt hat. Intelligentere Regulierung muss in Zukunft solche Fehlentwicklungen verhindern, damit niemand mehr aus wirtschaftlicher Not in andere Länder gehen muss. Die Freizügigkeit des europäischen Arbeitsmarktes wird im übrigen auch von deutschen Arbeitnehmern sehr gern genutzt. Es wird vermutlich nie in allen europäischen Ländern eine gleiche Konjunkturentwicklung und gleiche Nachfrage und Angebote an Fachkräften geben. Da ist die Arbeitskräftefreizügigkeit eine sehr gute Möglichkeit, einen innereuropäischen Ausgleich zu schaffen und einen Mangel an Arbeitskräften im eigenen Land auszugleichen. Siehe auch meine Antwort zu Ihrer letzten Frage dazu.

>
> Auch werden Kinder offensichtlich ausgebeutet und verramscht:
>
> http://www.focus.de/politik/ausland/tid-34412/report-verramscht-und-ausgebeutet-kinder-als-ware_aid_1140728.html
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> Das soll also gut sein? Ich denke, auf so eine Art von Freizügigkeit
> könnten viele Bundesbürger verzichten. Warum befragt die Politik
> nicht das Volk, ob es das "Grundrecht" Freizügigkeit und die Aufnahme
> weiterer Länder in die EU überhaupt möchte?

ANTWORT

Bei allem Respekt Hr. Meier, ein Grundrecht dient dazu, dass jedes einzelne Individuum einen Anspruch darauf hat. Ein Grundrecht zu entziehen aufgrund eines Mehrheitsentscheids wäre genauso fatal, wie wenn die Große Koalition entscheiden würde, dass Deutschland ab sofort auf andere Parteien verzichten kann - denn eine Mehrheit der Deutschen (67%) hat sich im September 2013 dafür entschieden, dass CDU und SPD die beiden besten Parteien sind.

Ein Grundrecht dient dem Minderheitenschutz und sollte daher nicht durch einen Mehrheitsentscheid beschnitten werden! Die Freizügigkeit ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union. Wegen einzelner Fälle sollte man diesen großartigen Wert nicht zur Disposition stellen. In dem von Ihnen zitierten Artikel steht explizit, dass eine bulgarische Mutter einige ihrer Kinder aus schierer Not verkauft hat, weil sie sie nicht ernähren konnte. Ich finde das ist der eigentliche Skandal. Dass mitten in Europa Eltern und Kinder so ein Schicksal erleiden, aus wirtschaftlicher Not. Wir sollten an diesen Mißständen etwas ändern. In dem Artikel steht auch, dass die Grundlage für den nachgewiesenen Kindergeldbetrug schlecht gefälschte Papiere waren - hier hätte eine gründlichere Arbeit der Behörden vielleicht auch den Betrug verhindern können. Betrug ist immer ein Problem, aber genauso wie man den Autoverkehr nicht verbietet, obwohl Menschen die StVO mißachten und dadurch Tausende Menschen sterben jedes Jahr, genauso sollte man nicht demokratische Freiheiten für alle aufgeben, nur weil es einzelne Mißbrauchsfälle gibt. Wie in meiner Antwort auf Ihre erste Frage bereits geschrieben, halte ich es für kein mögliches Massenphänomen, dass Eltern sich freiwillig für Geld von ihren Kindern trennen. Als Mutter eines Kindes kann ich mir das schlicht nicht vorstellen.

Die Erweiterung der EU ist immer eine komplexe Entscheidung. Aktuell steht keine Erweiterung in naher Zukunft an. Die früheren Erweiterungen halte ich für sinnvoll. Sie trugen dazu bei, dass wir zu einem der größten und stärksten Wirtschaftsräume weltweit wurden, mit 500 Mio Einwohner*innen und einer reichen Vielfalt an Kulturen. Das ist ein Schatz für die EU.

>
> Auszug aus einem n-tv-Artikel:
>
> Die Zahl der Arbeitslosen ist der DIW-Studie zufolge bei fast allen
> Fachkräften höher als die Zahl der offenen Stellen. Lediglich in
> einigen wenigen Berufen sieht die Untersuchung tatsächlich Hinweise
> auf eine echte Knappheit in der Arbeitslosenstatistik. Das sind im
> Einzelnen Vulkaniseure und Elektroinstallateure sowie Ärzte und
> Krankenschwestern.
>
> Quelle hierfür:
> http://www.n-tv.de/wirtschaft/Die-Maer-vom-Fachkraeftemangel-article3833126.html
>
> Wie möchten Sie das ändern?

ANTWORT

Der von Ihnen zitierte Artikel ist 3 Jahre alt, seitdem hat der Fachkräftemangel weiter zugenommen. Die Fachkräfteengpaßanalyse der Bundesagentur für Arbeit stellt auch für folgende Berufsgruppen echte Engpässe fest:

* Maschinen- und Fahrzeugtechnik (Felder, in denen Deutschland v.a. exportiert)
* Mechatronik, Automatisierungstechnik, Elektrotechnik
* Informatik und Softwareentwicklung
* Energietechnik
* Sanitär, Heizung, Klima, Klempnerei
* Ver- und Entsorgung
* Humanmedizin
* Gesundheits- und Krankenpflege
* Altenpflege (ein riesiges, weiter wachsendes Problem)
* Orthopädie und Reha
* diverse Eisenbahnberufe

Das sind nicht nur akademische Berufe in wichtigen (und wachsenden) Feldern sondern eben auch Lehrberufe. Insgesamt zählte die BA im Dezember 2013 ca. 50 Berufe und Berufsgruppen, in denen Mangel herrscht, v.a. für Fachkräfte, Experten und Spezialisten. Die Quelle für diese Informationen sind die offiziellen Statistiken der Bundesagentur - die
aktuellsten Daten:
http://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Fachkraeftebedarf-Stellen/Fachkraefte/BA-FK-Engpassanalyse-2013-12.pdf

. Wenn diese Stellen nicht mit Personal aus dem Inland besetzt werden können, ist die Alternative dazu, Menschen aus dem Ausland einzustellen oder die Stellen unbesetzt zu lassen, was entweder der Exportwirtschaft schadet oder zulasten der Bürgerinnen und Bürger hierzulande geht - wenn es z.B. nicht genug medizinisches Personal gibt.

Dennoch sprechen Sie einen wichtigen Punkt an - nämlich den, dass es viele Arbeitslose gibt, die auf offene Stellen nicht vermittelt werden (können), darunter viele Langzeitarbeitlose und Geringerqualifizierte. Es geht dann darum, dass man Wunsch und Wirklichkeit auseinanderhält und sich überlegt, was eine langfristige Lösung sein kann.

Wir müssen weg von Streben nach der Vollbeschäftigung, denn das ist ein unrealistisches Ziel! In unserem Zeitalter, in dem immer mehr Aufgaben durch Computer und Maschinen besser und schneller bearbeitet werden können, müssen wir ein System schaffen, dass Arbeitslosigkeit zulassen kann, ohne in sich zusammenzufallen und ohne, dass damit Menschen die Möglichkeit auf Teilhabe am sozialen Leben verlieren. Dafür wollen wir das bedingungslose Grundeinkommen. Aber wir wollen auch mehr Chancen für Ältere, einen Abbau von Diskriminierung und eine Verbesserung der Inklusion von Benachteiligten. So ist lebenslanges Lernen wichtig, um Menschen neue Jobchancen zu ermöglichen und sie nicht abzuschreiben, nur weil sie 50+ Jahre alt sind und ihre Ausbildung heutigen Anforderungen nicht mehr genügt. Manche Arbeitssuchende finden deshalb keine Stelle, weil sie keine Ganztagskinderbetreuung finden oder weil man lieber Männer als Frauen (oder umgekehrt) einstellt. Andere bleiben unvermittelt, weil den Arbeitgeber die Wohnadresse mißfällt, der Name türkisch klingt oder die Bewerberin auf dem Foto ein Kopftuch trägt. Andere haben keine höheren Qualifikationen, weil in Deutschland der Bildungserfolg vom sozialen Hintergrund abhängt - mehr als in anderen Ländern. Alles das sind Diskriminierungen, die eine Verschwendung von Talenten bedeuten, die sich unser Land nicht leisten kann und die dann zu den von Ihnen erwähnten Effekten führen. An all diesen Baustellen muß man ansetzen, wenn man das ändern möchte.

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